Immuntherapie-induzierter Diabetes mellitus Typ 1
Immuntherapien führen häufig zu endokrinen Störungen

Immuntherapie-induzierter Diabetes mellitus Typ 1

Fallberichte
Ausgabe
2018/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03332
Swiss Med Forum. 2018;18(35):710-713

Affiliations
Spital Oberengadin, Samedan

Publiziert am 29.08.2018

Die notfallmässige Zuweisung erfolgte aus dem onkologischen Ambulatorium aufgrund einer neu diagnostizierten Hyperglykämie bei generellem Schwächegefühl, Polydipsie und vermehrter Polyurie seit einigen Wochen.

Hintergrund

Unter den neuen immun-onkologischen Therapien, welche das Immunsystem beeinflussen, haben die sogenannten Checkpoint-Inhibitoren neue Optionen eröffnet für die Behandlung des metastasierenden Melanoms, des kleinzelligen und nichtkleinzelligen Lungenkar­zinoms, des Nierenzell- sowie des Urothelkarzinoms. Mehrere Studien haben ein gutes Ansprechen, deutlich verlängerte Überlebenszeiten sowie eine höhere Remissionsrate als bei den bisherigen Therapien gezeigt. Zahlreiche Studien zur Therapie von malignen soliden und hämatologischen Erkrankungen (insbesondere Hodgkin-Lymphom) sind im Gange. Die komplexen ­Interaktionen zwischen dem Immunsystem und den Tumorzellen sind noch nicht vollständig geklärt. Die ­T-Zell-Aktivierung gilt als der zentrale Schritt in der adaptiven Immunität. Die erworbene Immunität, die sich durch die Anpassung an ein Antigen auszeichnet, kann deswegen aber auch zu autoimmunen Reaktionen führen. Nebenwirkungen von Checkpoint-Inhibitor-Therapien kommen in 10–20% der Fälle vor, die, wenn früh erkannt und therapiert, meist reversibel sind. Werden sie jedoch verpasst, können lebensbedrohliche Nebenwirkungen auftreten [1]. Eine Überaktivierung der T-Zellen wird durch sogenannte «Checkpoints» verhindert. Tumorzellen nützen diese, um die Immunantwort zu umgehen; durch Bindung an den PD-1- und CTLA-4-Rezeptor auf den T-Zellen wird die Immunreaktion unterdrückt oder abgeschwächt. Die Aktivierung dieser Rezeptoren durch die Tumorzellen kann mittels Immunmodulatoren unterdrückt werden. Folge ist eine aggressivere Antwort auf die Tumorzellen, teilweise auch gegen körpereigene gesunde Zellen. Die bisher zugelassenen vier Checkpoint-Inhibitoren, Ipilimumab (ein monoklonaler Antikörper gegen CTLA-4), Nivolumab (anti-PD1, ein monoklonaler Antikörper gegen das Oberflächenprotein aus der Immunglobulinfamilie «programmed cell death protein 1»), Pembrolizumab (anti-PD-1) und Atezolizumab (anti-PD-L1, ein monoklonaler Antikörper gegen das Oberflächenprotein «programmed cell death 1 ligand 1», das an den PD-1-Rezeptor bindet) wurden bereits in mehreren klinischen Studien geprüft, sodass das Sicherheits- und Neben­wirkungsprofil zuverlässig eingeschätzt werden kann. Ipilimumab war der erste für das metastasierende ­Melanom zugelassene Antikörper. Beim kombinierten Einsatz der Sub­stanzen (Ipilimumab/Nivolumab) wird aufgrund des synergetischen Wirkprinzips ein stärkerer Effekt erzielt, allerdings ist auch mit 40% mehr Nebenwirkungen zu rechnen. Bei Nivolumab und Pembrolizumab allein wurden bei weniger als 10% autoimmune Nebenwirkungen beschrieben [2, 5, 6].

Fallbericht

Anamnese

Die notfallmässige Zuweisung erfolgte aus dem onkologischen Ambulatorium aufgrund einer neu diagnostizierten Hyperglykämie. Die Patientin berichtete von einem generellen Schwächegefühl, Polydipsie sowie vermehrter Polyurie, die seit einigen Wochen bestehen würden.
Die ansonsten gesunde Patientin leidet seit 2013 an ­einem malignen Melanom, das initial am Handrücken links diagnostiziert und exzidiert wurde (Breslow 4,12, Clark Level IV). Nach Nachexzision, Spalthautdeckung (Abb. 1) sowie Biopsie des Sentinelllymphknotens axillär links (tumorfrei) konnte vorerst von einer kompletten Remission ausgegangen werden.
Abbildung 1: Status nach Nachexzision Handrücken links und Spalthautdeckung (Die Publikation erfolgt mit dem ­Einverständnis der Patientin).
2014 kam es zu einem Lokalrezidiv mit axillärer 17 mm grosser Metastase, die exzidiert wurde, histologisch fand sich eine BRAF-Mutation p.V 600E. In den regelmässigen dermatologischen und radiologischen Verlaufskontrollen waren vorerst keine Hinweise auf ein Lokalrezidiv oder Fernmetastasen festzustellen. Im PET-Scan konnten Anfang 2017 eine pulmonale Herdläsion sowie ein mali­gner Lymphombulk mediastinal nachgewiesen werden (Abb. 2).
Abbildung 2: Nachweis eines Krankheitsrezidives mit ­Lymphombulk mediastinal sowie zwei pulmonale Herdläsionen im linken Unterlappen im PET-CT (Die Publikation erfolgt mit dem Einverständnis der Patientin).
Daraufhin wurde eine Immuntherapie mit Ipilimumab und Nivolumab eingeleitet. Bereits nach dem ersten Therapiezyklus der Immuntherapie kam es zu einer Thyreoiditis, die mit Levothyroxin (0,05 mg täglich) substituiert werden musste. Nach dem zweiten Zyklus (sechs Wochen nach dem ersten Zyklus) entwickelte die Patientin eine Autoimmun­dermatitis Grad 3, die mit Steroiden (Prednison 10 mg täglich) therapiert wurde.

Befunde, Diagnose und Therapie

Es präsentierte sich uns eine grenzwertig tachykarde (100/min) und hypertone (147/84 mm Hg), afebrile Pa­tientin in leicht reduziertem Allgemeinzustand. Die Plasmaglukose betrug 34,8 mmol/l bei einem HbA1c von 12,3%. Laborchemisch fanden sich, passend zur ­Hyperglykämie, eine Translokationshyponatriämie (126 mmol/l), eine ausgeprägte Glucosurie sowie Ketonkörper im Urin. Die arterielle Blutgasanalyse zeigte eine respiratorisch kompensierte, leichte, metabolische Azidose. Der TSH-Wert war trotz Substitutionstherapie aufgrund einer bereits bekannten Autoimmun-Hypothyreose (Immuntherapie-bedingt) mit 40 mU/l ebenfalls erhöht. Initial bestand differentialdiagnostisch der Verdacht auf einen steroidinduzierten Diabetes, deshalb wurde die Cortisontherapie abgesetzt. Die Familienanamnese bezüglich Diabetes ist unauffällig. Es wurde eine Insulintherapie nach Basis-Bolus-Prinzip eingeleitet. Inselzell-Antikörper konnten nicht nachgewiesen werden, das C-Peptid war deutlich verringert (0,11 nmol/l), weswegen von einem Diabetes Typ 1, am ehesten durch die Immuntherapie induziert, ausgegangen wurde. Aufgrund von bekannten autoimmunen Nebenwirkungen bei dieser Patientin wurde zusätzlich eine Hypophysitis gesucht, diese konnte bei unauffälligem Morgencortisolspiegel, Synacthen-Test und Magnetresonanztomogramm (MRT) des Neurocraniums ausgeschlossen werden.

Verlauf

Die Blutzuckerwerte normalisierten sich unter der Insulintherapie allmählich, eine Erholung der Betazellen war aber bei gleichbleibendem Insulinbedarf nicht zu beobachten. In der Verlaufsbildgebung nach nur zwei Therapiezyklen war eine sehr gute Tumorremission zu beobachten. Aufgrund der Nebenwirkungen wurde die weitere Behandlung lediglich mit Nivolumab durch­geführt und Ipilimumab nach zwei Zyklen abgesetzt. Der Blutzuckerspiegel war mit 12 Einheiten Levemir (bedtime) sowie einem prandialen Insulinschema mit Novorapid (4–8 Einheiten zu jeder Mahlzeit) gut kon­trolliert, der HbA1c-Wert betrug 7,9%. Die letzte Verlaufsbildgebung nach weiteren drei Monaten Therapie mit Nivolumab zeigte grössenregrediente mediastinale Lymphknotenmetastasen im aortopulmonalen Fenster und keine neuen Lymphknotenmetastasen. Es fanden sich jedoch ein neuer Nodulus von 3 mm im linken Unterlappen und ein neuer Verdacht auf Skelettmetastasen auf Höhe des Brustwirbelkörpers (BWK) 5 und im Femurkopf.

Diskussion

Autoimmune Nebenwirkungen werden in Zusammenhang mit den Immuntherapien bei verschiedenen Tumoren und auch bei Melanompatienten vermehrt festgestellt. Die am häufigsten beobachtete (bei fast 50% der mit Ipilimumab behandelten Patienten) Nebenwirkung ist die Hauttoxizität in Form einer Rötung sowie eines makulopapulösen Exanthems, die sich 3–6 Wochen nach Beginn der Therapie manifestiert. Oft handelt es sich um eine leichtgradige Veränderung, wogegen ein schwerer Verlauf nur in 1–2% der Fälle beobachtet wird. Als Therapieoption werden topische oder perorale Steroide empfohlen. Des Weiteren kommt es häufig zu ­Diarrhoe als Folge einer Kolitis, auch hier sind Steroide die Therapie der Wahl. Eine autoimmun bedingte Hepatotoxizität kommt bei 5% der Patienten vor (durchschnittlich 6 Wochen nach Therapiebeginn), das Ausmass reicht von einer Erhöhung der Transaminasen und des Bilirubins bis zu einer akuten Hepatitis. Zusätzlich sind unter den bekannte Nebenwirkungen Thyreoiditis, Hypophysitis, Pneumonitis, Nephritis, Uveitis, fulminante Myokarditis, Myositis, Enzepha­litis, Pankreatitis, Arthritis, Polymyalgia-like-Syndrome, Myasthenia gravis, Sarkoidose, Hämolyse und Elektrolytstörungen [3].
Endokrine Störungen treten bei allen Checkpoint-Inhibitoren relativ häufig auf, jedoch unterscheiden sich die Nebenwirkungen je nach Substanzklasse wesentlich. Mehrere endokrine Organe können gleichzeitig betroffen sein, die Nebenwirkungen können innerhalb von wenigen Wochen oder erst nach mehreren Monaten auftreten. Die Rate an Endokrinopathien ist bei einer Kombination von Ipilimumab/Nivolumab verglichen mit der jeweiligen Monotherapie zwei- bis dreifach erhöht. Die beschriebene Inzidenz an Immuntherapie-assoziierten endokrinen Nebenwirkungen beträgt insgesamt bis zu 10–20% bei Monotherapien (insbesondere mit Ipilimumab, <10% bei Nivolumab und bei Pembrolizumab) und bis zu 40% bei Kombination von Ipilimumab und Nivolumab [5, 6]. Unter dieser Kombinationstherapie sowie unter Monotherapie mit Nivolumab sind Thyreoiditiden die häufigste Nebenwirkung (bei der Kombinationstherapie bis 27%), gefolgt von ­Hypophysitiden (Kombinationstherapie bis 13%). Letztere kommen aber als häufigste Nebenwirkung bei einer Ipilimumab-Monotherapie vor (in 8–11%) und Thyreoiditiden werden hierunter in 6% der Fälle beschrieben [3, 6]. Generell führen PD1/PD-L1-basierte Therapien häufiger zu Thyreoiditiden, wobei die CTLA-4-basierten Therapien häufiger Hypophysitiden verursachen (bei Hypophysitis <1% mit PS1/PD-L1 versus 0–5–17% mit CTLA-4) [3, 6]. Autoimmune therapieassoziierte Pankreatitiden wurden bisher vor allem in Zusammenhang mit Nivolumab beschrieben. Einzelne Fälle unter Therapie mit Ipilimumab und Pembrulizumab sind aber auch beobachtet worden. Bei Beteiligung des Pankreas kann es – wie im vorliegenden Fall – aufgrund der Zerstörung der pankreatischen Betazellen durch autoreaktive T-Zellen zu einem Diabetes mellitus – mit Risiko einer Ketoazidose – kommen [3, 5]. Eine solche Komplikation kann sich innerhalb einer Woche und bis zu fünf Monate nach Therapiebeginn manifestieren. In mehreren Fällen wurde eine Serokonversion von Inselzell-Autoantikörpern gefunden. Allerdings ist zu beachten, dass in etwa 50% der Fälle auch im Verlauf keine Autoantikörper nachzuweisen waren. Trotzdem geht man aufgrund des Insulinmangels (sehr niedriges C-Peptid) von einem Diabetes Typ 1 aus. Bisher wurden wenige Fälle von autoimmun induziertem Diabetes mellitus beschrieben, die in einigen Studien vor allem mit dem Vor­handensein von HLA-DR4/DQ8-Antigen-Serotypen ­assoziiert waren. Andere Studien konnten keine HLA-Assoziation zeigen [5].
Klinisch manifestieren sich die durch die Immuntherapie verursachten Nebenwirkungen der endokrinen Krankheitsbilder entsprechend typisch. Sie treten im Durchschnitt sechs Wochen nach Beginn der Therapie auf und selten kann der Verlauf tödlich sein. Therapeutisch wird bei einer Hypophysitis mit akuter Nebenniereninsuffizienz sowie Hypophysitis mit schwerem Krankheitsverlauf, Sehstörungen, massiven Kopfschmerzen, schwerer Hyponatriämie oder bei Nachweis einer sehr grossen Hypophyse im MRT empfohlen, akut eine kurze hochdosierte Glukokortikoidgabe durchzuführen [3, 6]. Eine Reversibilität der Hypophyseninsuffizienz konnte aber trotz hochdosierter Glukokortikoide nicht beobachtet werden, weswegen in den meisten Fälle eine Hormonsubstitution anstelle einer Behandlung der Hypophysitis empfohlen wird. Auch eine sekundäre Hypothyreose oder ein Hypogonadismus soll hormonell und nicht mit Steroiden behandelt werden. Bei den primär autoimmun-induzierten Schilddrüsendysfunktionen sind eine Levothyroxinsubstitution oder die symptomatische Behandlung der Thyreotoxikose (z.B. mit Betablockern) empfohlen. Im Fall eines Diabetes mellitus werden Glukokortikoide wegen einer potentiellen Verschlechterung der Hyperglykämie vermieden. Diesbezüglich gibt es jedoch bisher keine zuverlässigen Studien. Mit einer kompletten Remission der Endokrinopathie ist insgesamt in weniger als 50% zu rechnen [4], wobei es üblicherweise mehrere Monate braucht, bis sich die endokrine Funktion wieder normalisiert. In vielen Fällen persistiert die Schädigung jedoch. Persistierende Unterfunktionen, insbesondere bei Beteiligung der Schilddrüse, sind häufig, bei endokrinen Nebenwirkungen einer Ipilimumab/Nivolumab-Kombinationstherapie sogar in über 50% der Fälle [3, 6]. Versuche, durch verschiedene Biomarker und genetische Tests potentielle Nebenwirkungen vorhersagen zu können, haben bisher keine eindeutigen Resultate gezeigt und werden deshalb nicht empfohlen [3].

Das Wichtigste für die Praxis

• Die neu entwickelten Immuntherapien eröffnen für die Therapie des metastasierenden Melanoms und anderer maligner Erkrankungen vielversprechende Möglichkeiten, bergen aber das Risiko schwerwiegender autoimmuner Nebenwirkungen.
• Im Verlauf einer Therapie mit Checkpoint-Inhibitoren müssen zwingend regelmässige Laborkontrollen der wichtigsten Funktionsparameter von endokrinen Organen vorgenommen werden (insbesondere TSH, fT4, Glukose, Cortisol, ACTH, Prolactin und gegebenenfalls Gonadotropine).
• Aufgrund der bisherigen Datenlage bieten genetische Tests mit Risiko­stratifizierung vor Therapiebeginn keinen Vorteil.
Wir danken Prof. Dr. med. G. Spinas für die fachlichen Anregungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts. Ebenso danken wir dem radiologischen Institut des Kantonsspitals Chur für die Bereitstellung des radiologischen Bildmaterials.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med.
Florian Kaspar Vetterli
Kantonsspital St. Gallen
Spitalgasse 8
CH-9000 St. Gallen
florian.vetterli[at]kssg.ch
1 Linardou H, Gogas H. Toxicity management of immunotherapy for patients with metastatic melanoma. Ann Transl Med. 2016;4(14):272.
2 Khan U, Farman A, Muhammad SK, Zaka A, Hadid T. Immunotherapy-associated autoimmune hemolytic anemia. J Immunother Cancer. 2017;5:15.
3 Sznol M, Michael AP, Davies MJ, Pavlick AC, Plimack ER, Shaheen M, et al. Endocrine-related adverse events associated with immune checkpoint blockade and expert insights on their management. Cancer Treat Rev. 2017;58:70–6.
4 Lowe JR, Perry DJ, Salama AKS, Mathews CE, Moss LG,Hanks BA.
Genetic risk analysis of a patient with fulminant autoimmune type 1 diabetes mellitus secondary to combination ipilimumab and nivolumab immunotherapy. J Immunother Cancer. 2016;4:89.
5 Godwin JL, Jaggi S, Sirisena I, Sharda P, Rao AD, Mehra R, et. al. Nivolumab-induced autoimmune diabetes mellitus presenting as diabetic ketoacidosis in a patient with metastatic lung cancer. J Immunother Cancer. 2017;5:40.
6 Byun DJ, Wolchok JD, Rosenberg LM, Girotra M. Cancer Immunotherapy- immune checkpoint blockade and associated endocrinopathies. Nat Rev Endocrinol. 2017;13(4):195–207.