Medizinische Onkologie: Das Molekulare Tumorboard
Schlaglicht der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Onkologie

Medizinische Onkologie: Das Molekulare Tumorboard

Schlaglichter
Ausgabe
2018/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03448
Swiss Med Forum. 2018;18(5152):1097-1099

Affiliations
a Zentrum für Hämatologie und Onkologie, UniversitätsSpital Zürich; b Institut für Pathologie und Molekularpathologie, UniversitätsSpital Zürich; c Universität Zürich

Publiziert am 19.12.2018

In der Onkologie meint «Präzisionsmedizin» Therapieanpassung an molekulare Tumormerkmale. Wir beleuchten im Schlaglicht 2018 die Auswirkungen der «Präzisionsonkologie» auf die onkologische Praxis.

Einführung

Die technische Weiterentwicklung der molekularen ­Diagnostik mit der Entwicklung der Hochdurchsatz­sequenzierung erlaubt es heute, multiple genomische Veränderungen in Krebszellen auf einmal nachzuweisen. Diese Techniken bilden die Grundlage für Präzi­sionsmedizin in der Onkologie, die sogenannte Präzi­sionsonkologie [1]. Darunter versteht man die möglichst umfassende molekular-genetische Charakterisierung der Krebserkrankung eines Patienten, um therapeutisch angreifbare molekulare Veränderungen zu iden­tifizieren, mit dem Ziel einer zielgerichteten Therapie. Diesen Ansatz verbindet man mit der Hoffnung auf eine höhere therapeutische Effizienz bei geringeren Nebenwirkungen als unter zytotoxischer Chemotherapie. Die breite tumorgenomische Testung im klinischen Alltag bringt jedoch zahlreiche Herausforderungen mit sich, die wir im Folgenden diskutieren.

Genomische Tumortestung und damit verbundene Herausforderungen

Die Weiterentwicklung der Hochdurchsatzsequen­zierung («next generation sequencing» [NGS]) in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass wir heute mit verhältnismässig geringem technischen und finanziellen Aufwand eine Vielzahl der Gene im Tumorgenom unserer Patienten analysieren können. Während die Analyse des gesamten Genoms («whole-genome sequencing» [WGS]) immer noch mit beträchtlichem Aufwand verbunden ist, gehört eine gezielte Sequen­zierung von Gruppen einzelner Gene («panels») inzwischen zur Routine. Solche NGS-Panels umfassen 20 bis 500 Gene, die aufgrund ihrer diagnostischen, prognostischen und/oder prädiktiven Bedeutung ausgewählt wurden.
In einzelnen, klar definierten Situationen sind zielgerichtete Therapien basierend auf molekularen Aberrationen sehr erfolgreich, haben in prospektiven Studien Überlebensvorteile gezeigt und sind zu Standardthe­rapien geworden (z.B. die HER2-Amplifikation beim Mammakarzinom, EGFR-Mutationen oder ALK-Translokationen beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom [NSCLC], oder BRAF-Mutationen beim Melanom [2, 3]). Es ist hingegen unklar, ob flächendeckende NGS-Panel-Testungen den Patienten ein verlängertes Überleben bringen können. Therapeutisch angreifbare Veränderungen werden bei rund ¹⁄₃ der Patienten entdeckt und auch dann wird ein Ansprechen auf die zielgerichtete Therapie nicht immer eintreten [4–6]. Bis jetzt wurde erst eine Studie publiziert, die den Wert einer breiten genomischen Tumortestung prospektiv randomisiert untersuchte (SHIVA) und diese fiel negativ aus [7]. SHIVA wurde allerdings in verschiedenen Punkten hart kritisiert, insbesondere im Hinblick auf eine nicht optimale Indikation für die Everolimus-Therapie [8]. Überdies konnten Metaanalysen, die Studien zielgerichteter Medikamente mit Studien konventioneller Zytostatika verglichen, im Gegensatz zu SHIVA zeigen, dass zielgerichtete Krebstherapien höhere Ansprechraten und ein längeres Gesamtüberleben erreichen als unspezifisch zytostatisch wirksame Substanzen [9]. Weitere prospektive Studien laufen, zum Beispiel die NCI-MATCH-Studie in den USA, die Patienten basierend auf einer Panel-Testung von 143 Genen einem von rund 40 Therapiearmen zuordnet. Bislang wurden über 6000 Patienten eingeschlossen, wovon rund 10% eine angreifbare Veränderung aufwiesen und dann effektiv auch in einem der Therapiearme behandelt werden konnten. Die ersten Resultate wurden vorgestellt und waren positiv [10].
Wegen dieser positiven Daten und da die Kosten dieser Untersuchungen weiter sinken werden, erhalten in ­Zukunft wohl nahezu alle Krebspatienten eine genomische Tumortestung. Dies wird neue Herausforderungen für uns behandelnde Ärztinnen und Ärzte mit sich bringen. Schon heute kommt es vor, dass sich ­Patienten mit den Sequenzierberichten in der Sprechstunde vorstellen und wir mit der Frage «Was nun …?» konfrontiert sind (Abb. 1A). Solche Sequenzierresultate sollten daher an interdisziplinären Molekularen Tumorboards (MTB) diskutiert werden, unter Einbezug aller klinischen, bildgeberischen und histopathologischen Informationen zum Fall wie auch der technischen und qualitativen Details der Testung. Zum Schluss wird eine therapeutische Empfehlung abgegeben. Der schwierigste Teil dieser Beurteilung ist oftmals die ­Einschätzung, ob eine detektierte Mutation effektiv ein sinnvolles Ziel und ob das entsprechende ziel­gerichtete Medikament in der aktuellen Situation des Patienten eine sinnvolle Wahl ist. Neben eindeutig ­pathogenen Treibermutationen, die eine klare Rolle in der Tumorentstehung haben, gibt es auch viele so­genannte «passenger»-Mutationen, die keine ursäch­liche Bedeutung in der Transformation oder Progression haben. Bei dieser Einschätzung können bioinforma­tische Werkzeuge helfen, die automatisiert Literatur- und Web-Recherchen durchführen (Abb. 1B), wie auch verschiedene Klassifizierungssysteme molekularer Aberrationen.
Abbildung 1: Auszug aus einem typischen «next generation sequencing»-Bericht. A) Beschreibung der Probe und Auf­listung der detektierten Aberration(en), mit Beschreibung der Mutationsfrequenz und einer Bewertung der Pathogenität gemäss verfügbaren Datenbanken. B) Automatisierte ­Einschätzung der klinischen Bedeutung durch «Oncomine Knowledgebase Reporter».
Die Europäische Onkologie-Gesellschaft hat vor Kurzem die «ESMO Scale for Clinical Actionability of molecular Targets» (ESCAT) vorgestellt [11]. Diese unterscheidet sechs Gruppen von Aberrationen: ESCAT-Tier I–V und Tier X. ESCAT-Tier I haben dabei den höchsten Grad an Evidenz. Das sind molekulare Veränderungen, für die eine zielgerichtete Therapie in prospektiven Studien zu einer Verbesserung des Überlebens geführt hat. Der Einsatz der entsprechenden Medikamente ist somit Standard, wie in den eingangs erwähnten Beispielen. Tier II beinhaltet Mutationen, für die zielgerichtete Therapien mit einer bekannten Anti-Tumor-Wirkung existieren, aber Aussagen zum Überleben noch nicht gemacht werden können. Ein Beispiel ist die Mutation AKT1 p.E17K, für die ein Ansprechen auf den AKT-Inhibitor AZD5363 in verschiedenen Tumortypen in einer Phase-1-Studie gezeigt wurde, aber prospektive Untersuchungen zum Einfluss auf das Überleben fehlen [12]. Die weiteren ESCAT-Tier-Kategorien sind in Tabelle 1 beschrieben.
Tabelle 1: ESCAT-Tier-Kategorien (adaptiert von [11]).
ESCAT-TierDefinitionImplikation für Praxis
I = Routine-TargetZielgerichtete Therapie verbessert das Outcome (PFS und OS) in prospektiven klinischen Studien.Die zielgerichtete Therapie sollte bei dieser ­Veränderung «standard of care» sein.
II = aktuell unter­suchtes TargetZielgerichtete Therapie hat Aktivität gegen den 
Tumor, aber die Grösse des klinischen Vorteils für die Patienten ist zur Zeit noch unklar (PFS? OS?).Zielgerichtete Therapie kann bei dieser Veränderung einen Vorteil bringen, aber es braucht mehr Daten Einsatz bevorzugt im Rahmen von ­Studien / Registern.
III = hypothetisches TargetZielgerichtete Therapie bringt wahrscheinlich eine Verbesserung, da es positive, klinische Daten aus anderen Tumorarten als dem vorliegenden gibt.Einschluss in entsprechende klinische Studien sollte mit dem Patienten besprochen werden.
IV = hypothetisches Target (präklinisch)Zielgerichtete Therapie hat in prä-klinischen Modellen (in vitro oder in vivo) Aktivität gezeigt.Eine zielgerichtete Therapie sollte nur im Kontext von frühen klinischen Studien erwogen werden.
V = Kandidat für Kombinationst­herapieZielgerichtete Therapie hat Aktivität gegen den ­Tumor, aber in den Studien konnte kein klinischer Vorteil gezeigt werden (PFS und OS).Es sollte klinische Studien erwogen werden, in denen die zielgerichtete Therapie in Kombination mit einer anderen eingesetzt wird.
X = keine Evidenz 
für NutzenEs gibt keinerlei Evidenz dafür, dass die genomische Aberration therapeutisch angegangen werden könnte.Diese molekulare Veränderung sollte nicht zu einer klinischen Entscheidung beitragen.
PFS: «progression-free survival»; OS: «overall survival»
Eine weitere Herausforderung ist die Verfügbarkeit der entsprechenden Medikamente. Da zielgerichtete Therapien bei ESCAT-Tier-I-Veränderungen klar mit einem Überlebensvorteil assoziiert sind, sind sie im All­gemeinen zugelassen und breit erhältlich. Bereits bei ESCAT-Tier-II-Veränderungen aber kann es sein, dass eine Therapie gar nicht oder nur im «off-label»-Einsatz verfügbar ist, und dass der Patient somit einer gewissen Willkür bezüglich Kostenübernahme ausgesetzt wird. Hier wird es wichtig sein, zusammen mit den Kostenträgern und der pharmazeutischen Industrie faire, allgemein gültige Lösungen zu finden, um Ungleichbehandlungen zu vermeiden.
Gelegentlich werden bei diesen breiten genetischen Analysen am Tumorgewebe auch Veränderungen entdeckt, die hinweisend auf oder beweisend für Keimbahnmutationen sind, die der Patient potentiell weiter vererben kann. Das kann weitreichende Konsequenzen für den Patienten und seine Familie haben. Es ist daher zentral, dass die Patienten vor Durchführung ­einer Panel-Testung, die entsprechende Gene abdeckt, über diesen Aspekt aufgeklärt werden. Ebenso sollten diese Aspekte am MTB diskutiert und gegebenenfalls ein Facharzt für Medizinische Genetik hinzugezogen werden.
Zu guter Letzt werden auch viele Varianten unklarer Bedeutung (VUS) detektiert. Das können Mutationen in gut etablierten Treibergenen sein, die aber an ungewöhnlicher Stelle im Gen auftreten, oder aber Mutationen in Genen mit unklarer Bedeutung. Je grösser der Pool an getesteten Patienten wird, umso mehr wird sich auch die Bedeutung einzelner VUS klären, wenn die klinischen Follow-up-Daten verfügbar sind. Es ist daher zentral, dass sich die einzelnen Zentren zusammenschliessen, ihre Erfahrungen austauschen, und die Daten zu den Patienten prospektiv sammeln. Im Rahmen des «Swiss Personalized Health Networks» (SPHN), einer nationalen Initiative der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) mit dem Ziel, die Entwicklung der personalisierten ­Medizin in der Schweiz zu fördern, hat letztes Jahr ­unter anderem das «Swiss Personalized Oncology»(SPO)-Projekt finanzielle Unterstützung erhalten [13]. SPO hat es sich zum Ziel gemacht, klinische und molekulare ­Informationen von Krebspatienten schweizweit austauschbar zu machen und zu integrieren, um dadurch zusätzliches Wissen zu generieren und die Interpre­tation der molekularen Daten weiter zu verfeinern. Ein zentraler Bestandteil des SPO-Projektes ist dabei auch die Etablierung eines nationalen MTB, das über das Netzwerk der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung (SAKK) allen interessierten Zentren offenstehen wird.

Schlussfolgerung

Die Präzisionsonkologie erlaubt es, alle genomischen Veränderungen in den Tumoren unserer Patienten nachzuweisen. Die Einordnung und Gewichtung der detektierten molekularen Aberrationen ist jedoch ­herausfordernd und sollte im Rahmen von interdisziplinären MTBs geschehen. Im Rahmen der SPHN-Initiative und deren Driver-Projekt SPO soll ein nationales MTB etabliert werden, das die Spezialisten aller Schweizer Zentren zusammenbringen und die Diskussion ­speziell schwieriger Fälle ermöglichen wird.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Dr. rer. nat.
Christian Britschgi
Zentrum für Hämatologie und Onkologie
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
christian.britschgi[at]usz.ch
 1 Holch JW, Westphalen CB, Hiddemann W, et al. Precision Oncology and «Molecular Tumor Boards» – Concepts, Chances and Challenges. Dtsch Med Wochenschr. 2017;142:1676–84.
 2 Rosell R, Carcereny E, Gervais R, et al. Erlotinib versus standard chemotherapy as first-line treatment for European patients with advanced EGFR mutation-positive non-small-cell lung cancer (EURTAC): a multicentre, open-label, randomised phase 3 trial. Lancet Oncol. 2012;13:239–46.
 3 Swain SM, Baselga J, Kim SB, et al. Pertuzumab, trastuzumab, and docetaxel in HER2-positive metastatic breast cancer. N Engl J Med. 2015;372:724–34.
 4 Subbiah V, Kurzrock R. Debunking the Delusion That Precision Oncology Is an Illusion. Oncologist. 2017;22:881–2.
 5 Prasad V. Perspective: The precision-oncology illusion. Nature. 2016;537:63.
 6 Zehir A, Benayed R, Shah RH, et al. Mutational landscape of metastatic cancer revealed from prospective clinical sequencing of 10 000 patients. Nat Med. 2017;23:703–13.
 7 Le Tourneau C, Delord JP, Goncalves A, et al. Molecularly targeted therapy based on tumour molecular profiling versus conventional therapy for advanced cancer (SHIVA): a multicentre, open-label, proof-of-concept, randomised, controlled phase 2 trial. Lancet Oncol. 2015;16:1324–34.
 8 Tsimberidou AM, Kurzrock R. Precision medicine: lessons learned from the SHIVA trial. Lancet Oncol. 2015;16:579–80.
 9 Schwaederle M, Zhao M, Lee JJ et al. Impact of Precision Medicine in Diverse Cancers: A Meta-Analysis of Phase II Clinical Trials. J Clin Oncol. 2015;33:3817–25.
11 Mateo J, Chakravarty D, Dienstmann R, et al. A framework to rank genomic alterations as targets for cancer precision medicine: the ESMO Scale for Clinical Actionability of molecular Targets (ESCAT). Ann Oncol 2018.
12 Hyman DM, Smyth LM, Donoghue MTA, et al. AKT Inhibition in Solid Tumors With AKT1 Mutations. J Clin Oncol. 2017;35:2251–9.