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Was ist neu?
Gegenüber den 1999 [1], 2002 [2] und 2004 [21] formulierten Empfehlungen beinhaltet die vorliegende Revision zusätzliche Stellungnahmen zu Säuglingen, welche im Neugeborenenscreening mit Zystischer Fibrose diagnostiziert wurden und für Säuglinge mit spinaler Muskelatrophie.
Einleitung
Konsensusempfehlungen für die Verabreichung von Palivizumab in der Schweiz wurden erstmals 1999 formuliert [1]. Eine erste Überarbeitung erfolgte im Jahr 2002 [2]. Die von Swissmedic im Jahr 2004 genehmigte Indikationserweiterung für Kinder mit hämodynamisch signifikantem kongenitalem Herzvitium erforderte eine erneute Überarbeitung 2004 [21]. Entscheidungsgrundlagen lieferten damals eine in Nordamerika und Europa durchgeführte randomisierte, placebo-kontrollierte Studie über die Anwendung von Palivizumab bei Kindern mit hämodynamisch signifikanten kongenitalen Herzvitien [3] sowie eine Studie zur Inzidenz von «Respiratory Syncytial Virus»(RSV)-Hospitalisationen bei Kindern mit hämodynamisch signifikanten kongenitalen Herzvitien in der Schweiz [4].
Seit dem letzten Konsensus-Statement im Jahr 2004 sind einige klinische Studien zu RSV und zur Anwendung von Palivizumab erschienen. Nach sorgfältiger Durchsicht dieser Arbeiten sehen wir keine Notwendigkeit für eine relevante Adaptation unseres bisherigen Konsensus. Hingegen wollen wir auf die im 2014 von der «American Academy of Pediatrics» aktualisierten Richtlinien für Palivizumab-Prophylaxe bei Säuglingen und Kleinkindern mit erhöhtem Risiko für Hospitalisation bei RSV-Infektion hinweisen [22]. In diesen revidierten Richtlinien wird auf vier für die Schweiz relevante Patientengruppen Bezug genommen: Kinder mit anatomischen Lungenfehlbildungen oder neuromuskulären Erkrankungen, Kinder mit Immundefekt, Kinder mit Down-Syndrom und Kinder mit Zystischer Fibrose. Zu keiner dieser Patientengruppen gibt es populationsbasierte Daten zum Risiko einer Hospitalisation wegen RSV-Infektion und auch keine Daten zur prophylaktischen Wirksamkeit von Palivizumab.
Eine Konsensuskonferenz in Italien zog die gleichen Schlussfolgerungen [23].
RSV-Infektion und Palivizumab
Die RSV-Bronchiolitis ist die häufigste untere Atemwegsinfektion des Säuglings und führt bei 1–2% der jährlichen Geburtskohorte zur Hospitalisation infolge respiratorischer Insuffizienz und/oder ungenügender Flüssigkeitsaufnahme. Etablierte Risikofaktoren für eine RSV-bedingte Hospitalisation sind junges chronologisches Alter, Frühgeburtlichkeit, bronchopulmonale Dysplasie (BPD) und kongenitale Herzvitien. RSV verursacht jährliche Winterepidemien. In der Schweiz alternieren früh beginnende, hoch frequente Epidemien und spät beginnende, milde Epidemien [5].
Neben allgemeinen Massnahmen zur Expositionsprophylaxe besteht die derzeit einzige Präventionsmöglichkeit für Risikopatienten in der passiven Immunisierung mit Palivizumab (Synagis®), einem neutralisierenden monoklonalen Anti-RSV-Antikörper. Palivizumab wird während der RSV-Saison in monatlichen Abständen in einer Dosis von 15 mg/kg Körpergewicht intramuskulär verabreicht. In einer randomisierten, placebokontrollierten Studie (IMPACT-Studie) wurde nachgewiesen, dass Palivizumab bei ehemaligen Frühgeborenen ≤35 SSW die Hospitalisationsrate signifikant von 10,6% auf 4,8% senkt (relative Reduktion 55%) [6]. In der Subgruppe mit BPD verringerte Palivizumab die Hospitalisationsrate in nicht signifikanter Weise von 12,8% auf 7,9% (relative Reduktion 39%). Die Letalität wurde nicht beeinflusst. Unkontrollierte Studien mit unterschiedlichen Einschlusskriterien ergaben bei Palivizumab-behandelten Patienten Hospitalisationsraten zwischen 1,6 und 9,0% [7–14]. Palivizumab ist sicher und gut verträglich [7]. Eine auf Meldungen an die «Food and Drug Administration» in den USA beruhende Studie über schwere unerwünschte Ereignisse bei Kindern unter 2 Jahren brachte Palivizumab mit 28% der Meldungen in Zusammenhang [15]. Eine kausale Verknüpfung konnte aber nicht hergestellt werden [16]. Von einer interdisziplinären Expertengruppe wurden in den USA Empfehlungen zur Indikation von Palivizumab ausgearbeitet, die bereits mehrmals angepasst und aufgrund aktueller Daten im 2014 zuletzt aktualisiert wurden [22]. Neu wird Palivizumab für Frühgeborene deutlich restriktiver empfohlen als in den vorhergehenden Versionen. Nationale Empfehlungen anderer Länder variierten schon immer erheblich und bleiben im Allgemeinen restriktiver formuliert.
In der Schweiz kam die 1999 konstituierte interdisziplinäre Arbeitsgruppe nach sorgfältiger Analyse der verfügbaren Daten und einer Kosten-Effektivitäts-Analyse zum Schluss, dass die routinemässige Verabreichung von Palivizumab gemäss IMPACT-Kriterien nicht gerechtfertigt ist [1]. Für diese Beurteilung massgebend waren die bescheidene Wirksamkeit, die fehlende Beeinflussung der Letalität sowie die hohen direkten Kosten von Fr. 60 000 bis Fr. 100 000 zur Verhütung einer einzigen RSV-Hospitalisation. Dennoch verfügte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) im Jahr 2000 in Anlehnung an die Einschlusskriterien der IMPACT-Studie [6] die limitierte Kassenzulässigkeit von Palivizumab (1) für ehemalige Frühgeborene mit einem Alter von ≤6 Monaten zu Beginn der RSV-Saison und (2) für Kinder mit vorbestehender und bereits behandelter BPD im Alter von ≤12 Monaten zu Beginn der RSV-Saison. Im Jahr 2002 hat die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Empfehlungen für die Schweiz formuliert [2]. Diese Empfehlung wurde 2004 revidiert und neu formuliert. Palivizumab ist empfohlen für Frühgeborene ≤31 SSW mit schwerer BPD (gemäss Definition) bis ins Alter von 12 Monaten. Die Indikation für Frühgeborene ≤31 SSW mit mittelschwerer BPD soll individuell gestellt werden und für jene Frühgeborenen ≤31 SSW mit leichter BPD wurde Palivizumab nicht empfohlen.
Palivizumab für Kinder mit kongenitalem Herzvitium
In der eingangs erwähnten randomisierten, placebo-kontrollierten Studie [3] bewirkte die Verabreichung von Palivizumab an Kinder <24 Monaten mit kongenitalem Herzvitium eine Reduktion des RSV-Hospitalisationsrisikos von 9,7% auf 5,3% (relative Reduktion 45%, 95% Vertrauensintervall 23–67%). In der Subgruppenanalyse beschränkte sich eine signifikante Risikoreduktion auf Kinder <6 Monaten (12,2% vs. 6,0%) und solche mit nicht-zyanotischen Vitien (11,8% vs. 5,0%). Eine Reduktion der Letalität wurde nicht nachgewiesen. Aufgrund dieser Studienresultate wurde in den USA die Indikationsliste für Palivizumab erweitert und anhand neuerer Daten in der aktuellen Empfehlung nochmals angepasst. Kinder mit hämodynamisch signifikantem kongenitalem Herzvitium qualifizieren dort bis ins Alter von 12 Monaten für Palivizumab [22].
Eine populationsbasierte Studie [4] aus dem Kanton Bern, in der Hospitalisationsdaten von 1997 bis 2003 untersucht wurden, ergab für Kinder mit kongenitalem Herzvitium nach gleicher Definition wie oben [3] ein absolutes RSV-Hospitalisationsrisiko, das viermal kleiner war als in den USA [18]. Altersabhängige Hospitalisationsraten sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die so etablierten absoluten RSV-Hospitalisationsrisiken lagen im internationalen Vergleich im Inzidenzbereich von Gesamtpopulationen ohne Risikofaktoren. Für die Altersgruppe von Säuglingen <6 Monaten, für die eine signifikante Risikoreduktion durch Palivizumab nachgewiesen werden konnte [3], lag das relative Hospitalisationsrisiko für Kinder mit kongenitalem Herzvitium lediglich bei 1,4 (95% Vertrauensintervall 0,6–3,1). In dieser Studie wurde für Kinder mit kongenitalem Herzvitium eine signifikant höhere Letalität dokumentiert (1/10 vs. 0/719, p=0,014). Hierbei handelte es sich um einen einzigen Todesfall, der nicht hätte verhindert werden können, weil das Herzvitium erst anlässlich der RSV-Hospitalisation diagnostiziert wurde. Für verschiedene Altersgruppen wurde berechnet, dass zur Verhinderung von einer RSV-Hospitalisation zwischen 80 und 259 Patienten mit kongenitalem Herzvitium behandelt werden müssten [4].
Tabelle 1: RSV-Hospitalisationsrisiko für Kinder mit oder ohne hämodynamisch signifikantes kongenitales Herzvitium im Kanton Bern, 1997 bis 2003 [4]. | ||||
Altersgruppe (Monate) | ||||
Hospitalisationsrate | <6 | 6–12 | 12–24 | >24 |
Kinder mit Herzvitium1 | 2,5 (0,8–5,6) | 2,0 (0,9–3,8) | 0,5 (0,1–1,8) | 1,3 (0,6–2,3) |
Kinder ohne Herzvitium1 | 1,8 (1,6–2,0) | 1,2 (1,1–1,3) | 0,2 (0,16–0,23) | 0,7 (0,6–0,8) |
Relatives Risiko | 1,4 (0,6–3,1) | 1,6 (0,8–3,2) | 2,7 (0,7–9,7) | 1,8 (1,0–3,3) |
1 pro 100 Patientenjahre; 95% Vertrauensintervall in Klammern |
Überarbeitete Empfehlungen für die Verabreichung von Palivizumab in der Schweiz
Aufgrund der dargelegten Daten zur Epidemiologie von RSV-Hospitalisationen bei Kindern mit Risikofaktoren und zur Wirksamkeit bei Kindern mit kongenitalem Herzvitium formuliert die interdisziplinäre Arbeitsgruppe folgende Empfehlungen:
1. Die routinemässige Verabreichung von Palivizumab gemäss den bei Swissmedic registrierten oder den vom BAG als kassenpflichtig festgelegten Indikationen wird nicht empfohlen. Entscheidend für dieses Statement sind, dass (1) die Wirksamkeit von Palivizumab bescheiden ist, (2) sich der RSV-Hospitalisationsverlauf ehemaliger Frühgeborener ohne zusätzliche Risikofaktoren in der Schweiz nicht substanziell von Nicht-Frühgeborenen unterscheidet und (3) die Verabreichung von Palivizumab nicht wirtschaftlich ist.
2. Ehemalige Frühgeborene mit bronchopulmonaler Dysplasie (BPD): Säuglinge mit BPD weisen ein substanziell erhöhtes Hospitalisationsrisiko auf. Für Kinder im chronologischen Alter <12 Monaten zu Beginn der RSV-Saison und schwerer BPD gemäss internationaler Konsensusdefinition [17] empfiehlt die Arbeitsgruppe deshalb die Verabreichung von Palivizumab (Tab. 2). Für Kinder mit mittelschwerer BPD kann Palivizumab in Erwägung gezogen werden. Die Indikationsstellung erfolgt durch die zuständigen Neonatologen und pädiatrischen Pneumologen. Für Kinder mit leichter BPD wird Palivizumab nicht empfohlen
Tabelle 2: Indikation zur Verabreichung von Palivizumab an Kinder <12 Monaten zum Beginn der RSV-Saison gemäss Schweregrad der bronchopulmonalen Dysplasie (BPD) [17].Weil CPAP ebenfalls für nicht-pulmonale Pathologien angewendet wird, wurde im Januar 2017 von der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie ein Schweizer Konsens zur Spezifizierung festgelegt. Der Sauerstoffbedarf mit 36 Wochen wird mit einemSauerstoff-Reduktionstest von 30 Minuten bestimmt, während dem die Sättigung mindestens 90% betragen muss. | ||
Schweregrad | Definition | Gabe von Palivizumab |
FiO2 >0,21 für mindestens 28 Tage plus: | ||
Schwer | – <32 SSW bei Geburt; FiO2 >0,3
und/oder PPV/CPAP mit 36 Wochen oder bei Entlassung – ≥32 SSW bei Geburt; FiO2 >0,3 und/oder PPV/CPAP mit 56 Tagen oder bei Entlassung | Empfohlen |
Mittelschwer | – <32 SSW bei Geburt; FiO2 <0,3
mit 36 Wochen oder bei Entlassung – ≥32 SSW bei Geburt; FiO2 <0,3 mit 56 Tagen oder bei Entlassung | Individuelle Indikationsstellung |
Leicht | – <32 SSW bei Geburt; FiO2 = 0,21
mit 36 Wochen oder bei Entlassung – ≥32 SSW bei Geburt; FiO2 = 0,21 mit 56 Tagen oder bei Entlassung | Nicht empfohlen |
3. Kinder mit hämodynamisch signifikantem kongenitalem Herzvitium: Aufgrund der bescheidenen Wirksamkeit von Palivizumab [3], des geringen Hospitalisationsrisikos in der Schweiz, das im internationalen Vergleich in den Inzidenzbereich für Kinder ohne Risikofaktoren fällt, und der daraus folgenden exzessiv hohen Kosten zur Verhinderung einer RSV-Hospitalisation [4] wird die routinemässige Verabreichung an Kinder mit kongenitalem Herzvitium nicht empfohlen. Bei Vorliegen individueller Risikofaktoren kann Palivizumab für Kinder im chronologischen Alter von <12 Monaten zu Beginn der RSV-Saison indiziert sein. Risikofaktoren sind zyanotische Vitien, Vitien mit schwerer pulmonaler Hypertonie und/oder klinisch manifeste Herzinsuffizienz, sofern die chirurgische Korrektur vor Beginn der RSV-Saison nicht infrage kommt [19]. Die Indikationsstellung erfolgt durch den zuständigen Kinderkardiologen.
4. Andere Risikofaktoren: Theoretisch könnte für Neugeborene, welche im seit 2011 eingeführten Neugeborenen-Screening mit Zystischer Fibrose diagnostiziert wurden, eine RSV-Prophylaxe diskutiert werden. Die grosse klinische Variabilität (häufig geringe respiratorische Probleme im Säuglingsalter) und die absolut fehlenden Daten zum Nutzen der RSV-Prophylaxe bei dieser Population rechtfertigen keine generelle Indikation für die Gabe von Palivizumab. Dasselbe gilt für Säuglinge mit spinalen Muskelatrophien oder ähnlichen Myopathien. Für Säuglinge mit anderen Risikofaktoren wie zum Beispiel Immundefekte, Down-Syndrom, anatomische Lungenfehlbildungen, neuromuskuläre oder andere konsumierende Krankheiten ist Palivizumab ebenfalls weder registriert noch kassenzulässig. In ausgewählten Individualfällen, in denen die Verabreichung sinnvoll erscheint, ist die Finanzierung und die Off-Label-Anwendung durch den verschreibenden Arzt vorgängig zu regeln.
5. Palivizumab ist nicht indiziert und nicht wirksam [20] für die Therapie der etablierten RSV-Infektion.
6. Generell gibt es keine Indikation für Palivizumab jenseits des 2. Lebensjahres.
7. Allgemeine Empfehlungen: Es ist wichtig, betroffene Eltern sorgfältig darauf aufmerksam zu machen, dass Palivizumab das RSV-Hospitalisationsrisiko bei Kindern mit BPD oder Herzvitium nur teilweise senkt (40–50% niedrigeres Hospitalisationsrisiko wegen einer RSV-Infektion, 25% niedrigeres Risiko einer Hospitalisation aufgrund einer Atemwegsinfektion aller Ätiologien) und dass der Verlauf einer hospitalisationsbedürftigen RSV-Infektion trotz Palivizumab-Prophylaxe nicht günstig beeinflusst wird. Ebenso sollen die Eltern darauf aufmerksam gemacht werden, dass Rauchexposition und Krippenbesuch [10] das Hospitalisationsrisiko erhöhen und bei Hochrisikopatienten nach Möglichkeit vermieden werden sollten. Die Beratung kann zudem dazu genutzt werden, die aktiven Impfungen gegen Pneumokokken (ergänzende Impfempfehlung für alle Säuglinge ab Alter 2 Monate, inkl. Frühgeborene <32 SSW bzw. <1500 g, pulmonale und kardiale Risikopatienten) und Influenza (pulmonale und kardiale Risikopatienten ab dem Alter von 6 Monaten) zu empfehlen (https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/mensch-gesundheit/uebertragbare-krankheiten/impfungen-prophylaxe.html). Bei BPD und kardialen Indikationen ist der Kostenträger von Synagis® die IV.2
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Kopfbild: CDC/ Dr. H. Craig Lyerla ( 1977) Photomicrographic detection of respiratory syncytial virus (RSV) using indirect immunofluorescence technique.
Prof. Dr. med. David Nadal
Abteilung für Infektiologie
Universitäts-Kinderspital Zürich
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david.nadal[at]kispi.uzh.ch
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