Kognitive Aspekte medizinischer Fehler
Der aktuelle Wissensstand

Kognitive Aspekte medizinischer Fehler

Übersichtsartikel
Ausgabe
2018/1314
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2018.03060
Schweiz Med Forum 2018;18(1314):304-307

Affiliations
a Service de médecine interne, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne
b Unité de pédagogie médicale, Faculté de biologie et de médecine, Université de Lausanne, Lausanne

Publiziert am 28.03.2018

In der ambulanten Versorgung erhält schätzungsweise jeder 20. Patient eine Fehldiagnose und ca. 30% der gerichtlichen Klagen im medizinischen Bereich gehen auf das Konto von Fehldiagnosen.

Einleitung

Mit der Publikation des berühmten Berichts «To err is human: building a safer health system» des «In­stitute of Medicine» (IOM) [1] wurde seit Beginn der 2000er Jahre besonderes Augenmerk auf das Thema medizinische Fehler gerichtet. Im Bericht wurden die menschlichen und wirtschaftlichen Folgen medizinischer Fehler beschrieben. Um ihr Auftreten zu verringern, wurde eine Analyse der genauen Ursachen und Schwachstellen des Gesundheitssystems vorgeschlagen.
15 Jahre später veröffentlichte das IOM 2015 einen weiteren Bericht mit dem Titel «Improving diagnosis in health care» [2], der Bezug auf den ­ersten nimmt. In diesem zweiten Bericht wurde fest­gestellt, dass die Massnahmen zur Behebung der Schwachstellen im Gesundheitssystem allein nicht ausreichen, um medizinische Fehler zu verhindern. Daher geht er insbesondere auf Fehldiagnosen ein. Letztere können Patienten offensichtlich schaden, wenn dadurch eine adäquate Behandlung verzögert wird. Überdies können Fehldiagnosen gleichzeitig sowohl negative psychologische als auch finanzielle Folgen nach sich ziehen [3].
Die Häufigkeit medizinischer Fehldiagnosen ist schwer zu bestimmen, da sich ihre Definition je nach Studie unterscheidet, die Häufigkeit und Art der Fehler entsprechend des Fachbereichs und des Kontextes (Spital, ambulante Versorgung, akute, chronische Erkrankung) stark variieren und in Studien unterschiedliche Methoden zum Aufspüren von Fehldiagnosen (Analysen von Patientenakten, Autopsien, Spontanberichte, Fragebögen usw.) angewendet werden. Dennoch können die nachfolgenden Zahlen eine ungefähre Vorstellung über das Ausmass des Problems vermitteln. Die «Harvard Medical Practice Study» hat im Spitalbereich retrospektiv 30 195 Patientenakten untersucht und konnte nachweisen, dass Fehldiagnosen für 17% der unerwünschten Ereignisse während eines Spitalaufenthalts verantwortlich waren [4]. In der ambulanten Versorgung erhält schätzungsweise jeder 20. Patient eine Fehldiagnose [5] und ca. 30% der gerichtlichen Klagen im medizinischen Bereich gehen auf das Konto von Fehldiagnosen [6].
Der kulturelle Hintergrund, in dem wir ausgebildet wurden, in dem sich die Fehleranalyse häufig auf die Suche nach dem «Schuldigen» beschränkt, die Überzeugung, dass Fehler vor allem den anderen passieren, und die fehlende Hinterfragung von Entscheidungen durch einige Ärzte tragen dazu bei, dass Fehldiagnosen in der täglichen Praxis zur Herausforderung werden.
Ziel dieses Beitrags ist, den aktuellen Wissensstand bezüglich der Epidemiologie und der Faktoren, die mit Fehldiagnosen einhergehen oder diese begünstigen, zusammenzufassen sowie Strategien aufzuzeigen, die das entsprechende Risiko verringern können.

Clinical-Reasoning-Mechanismen und ­beeinflussende Faktoren

Man kann sich nicht mit Fehldiagnosen befassen, ohne die Abläufe beim Clinical Reasoning zu untersuchen. Clinical Reasoning ist definiert als alle kognitiven bewussten oder unbewussten Prozesse, die es ermög­lichen, anhand einer Beschwerde des Patienten eine Arbeitshypothese aufzustellen und eine mögliche Behandlung zu empfehlen. Es umfasst die Sammlung, Auswertung und Überprüfung von Daten und berücksichtigt vor jeder Intervention die Risiko-Nutzen-Analyse sowie die Patientenpräferenzen [7].
Nachfolgend möchten wir die wichtigsten Prozesse beim Clinical Reasoning zusammenfassen.

Das duale Prozessmodell

Jahrzehntelange Forschungen im Bereich der kognitiven Psychologie haben zur Entwicklung eines Clinical-Reasoning-Modells mit dem Namen «duales Prozessmodell» (auf Englisch «dual process theory») geführt. Dieses beruht auf den Erkenntnissen über die Denkstruktur, welche zwei Gedächtnisformen umfasst:
– Ein Arbeitsgedächtnis mit begrenzter Kapazität, welches zur Durchführung von Berechnungen, Schätzungen und Beurteilungen dient.
– Ein Langzeitgedächtnis mit theoretisch unbegrenzter Kapazität, welches zum Abrufen gespeicherter Erinnerungen entsprechend der Stärke ihrer Asso­ziation mit einer neuen Information dient [8].
Wenn ein Arzt einen Patienten mit Beschwerden vor sich hat, laufen in der täglichen Praxis zwei Arten des Clinical Reasoning ab. Welche davon zur Anwendung kommt, richtet sich danach, ob der Arzt mit dem entsprechenden Problem bereits vertraut ist [8–10]:
1. Hat der Arzt die Situation bereits erlebt, wird ein automatisches Reasoning in Gang gesetzt, welches auf dem sofortigen Erkennen der Symptome oder klinischen Anzeichen beruht. Dieser Prozess kann als direkter Abgleich einer neuen Information mit einem ähnlichen im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Beispiel verstanden werden. Er läuft rasch und mühelos ab, da er das Arbeitsgedächtnis nicht überlastet [8]. Bei einer neuen Situation kann die Intuition des Arztes so gut sein, dass der Abgleich mit dem im Langzeitgedächtnis gespeicherten Beispiel nicht bewusst abläuft. Auf diese Weise empfindet der Arzt bereits wenn er den Patienten mit den entsprechenden Symptomen und Anzeichen vor sich hat ein Gefühl der Alarmbereitschaft oder Beunruhigung [21].
2. Sieht sich der Arzt jedoch einer ungewöhnlichen oder komplexen Situation gegenüber, läuft ein sogenannter hypothetisch-deduktiver Analyseprozess ab. Dieser umfasst die Bildung mehrerer diagnostischer Hypothesen, deren Wahrscheinlichkeit evaluiert werden muss und die anschliessend anhand der Auswertung und Synthese klinischer und paraklinischer Informationen überprüft werden müssen. Dies bedeutet eine starke Belastung des Arbeitsgedächtnisses, welche so lange anhält, bis eine endgültige Arbeitshypothese gebildet wurde [10, 11].
Häufig laufen beide Prozesse parallel ab, wobei ein beständiger Wechsel zwischen (A) dem sofortigen Erkennen von Faktoren, anhand derer Hypothesen gebildet werden können, und (B) der Bestätigung (oder Entkräftung) letzterer durch hypothetisch-deduktives Reasoning stattfindet.

Heuristiken

Ärzte müssen Entscheidungen häufig sehr schnell ­treffen (während medizinischer Notfälle oder sehr ­voller Sprechstunden). Die psychologische Forschung hat ­herausgefunden, dass die Entscheidungsfindung in derartigen Situationen durch Heuristiken genannte, kognitive Strategien vereinfacht wird, welche die ­«Verkürzung von Denkvorgängen» ermöglichen, um zu ­einer schnellen Entscheidung zu gelangen, obwohl nicht alle Faktoren bekannt sind. Heuristiken sind im Allgemeinen sehr effektiv, wenn es darum geht, den klinischen Alltag zu erleichtern, und haben, wenn es sie gibt, in den meisten Fällen eine hohe Erfolgsrate [22]. Es fällt jedoch nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese Strategien, obgleich sie sehr effektiv sind, mitunter zu Fehldiagnosen führen können [13]. Wenn Heuristiken zu Fehlern führen, nennt man dies kognitive ­Verzerrung [2]. Am Ende dieses Beitrags werden einige häufige Beispiele für kognitive Verzerrungen im medizinischen Bereich detailliert aufgeführt.

«Nichtkognitive» Theorien

Wir wissen, dass unser Clinical Reasoning neben den kognitiven Prozessen noch von anderen Faktoren beeinflusst wird. So ist uns beispielsweise der Einfluss von Emotionen auf das Gedächtnis bekannt [14]: Wahrscheinlich erinnern wir uns besser daran, was wir am 11. September 2001 getan haben, als wir von der Kata­strophe des Attentats erfuhren, als daran, was wir gestern um 9.03 Uhr taten. Das Konzept der «situated cognition» impliziert, dass das Clinical Reasoning nicht nur den Arzt betrifft, sondern von der Interaktion zwischen Arzt, Patient und Arbeitsumfeld beeinflusst wird. Somit wird die Qualität des Clinical Reasoning von ­allen oben genannten Komponenten beeinflusst [15].

Kognitiv bedingte Fehldiagnosen und ­beeinflussende Faktoren

Fehler beim hypothetisch-deduktiven Reasoning

Eine retrospektive Analyse von 100 Fehldiagnosen im Fachbereich Innere Medizin (darunter 33 mit töd­lichem Ausgang) hat ergeben, dass die Ursache in 75% der Fälle ein fehlerhaftes Clinical Reasoning war [16]. Die Mehrheit der in der Studienserie untersuchten ­medizinischen Fehler stand in Verbindung mit der Sammlung (14%), der Synthese und Integration (50%) sowie der Überprüfung von Daten (33%). Kognitiv bedingte Fehl­diagnosen treten sowohl bei Anfängern als auch bei erfahrenen Ärzten auf, unterscheiden sich ­jedoch voneinander. Die häufigsten bei erfahrenen Ärzten beobachteten Fehler sind in Tabelle 1 zusammengefasst [17, 18].
Tabelle 1: Fehler erfahrener Ärzte beim hypothetisch-deduktiven Reasoning 
(angepasst nach [17]).
Clinical
ReasoningUnorganisierte oder unvollständige Datensammlung und Hypo­thesenbildung* (67%)
AnamneseÜbereilte Konsultationen, bei denen dem Patienten nicht aus­reichend zugehört wird (43%), unvollständige Anamnese (90%)
Körperliche ­UntersuchungUnvollständige körperliche Untersuchung (33%)
ManagementFehlen sinnvoller Strategien (97%)
Führung der ­PatientenakteFehlen wichtiger Aspekte (93%)
* Zwischen diesen beiden Faktoren besteht ein starker Zusammenhang: Denn häufig richten sich die untersuchten oder bei der Anamnese bzw. der körperlichen Untersuchung am stärksten gewichteten klinischen Parameter nach der jeweiligen Hypothese.

Fehler beim nichtanalytischen Reasoning

Beim nichtanalytischen Reasoning wird das Langzeitgedächtnis genutzt. Dabei wird auf sofortige und automatische Assoziationen zwischen den gespeicherten Informationen und der neuen Information zurückgegriffen. Kognitive Verzerrungen, welche bei der Anwendung von Heuristiken auftreten können, stehen mit dem nichtanalytischen Reasoning in Zusammenhang. Das Risiko für kognitive Verzerrungen ist in Situationen erhöht, in denen wir (unbewusst) gezwungen sind, verkürzte kognitive Operationen im Übermass oder auf unangemessene Weise anzuwenden. Diese Situationen können mit der Leistungsfähigkeit des Arztes, den Patienten oder dem Arbeitsumfeld zusammenhängen und sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Tabelle 2: Situationen, die durch kognitive Verzerrungen zu Fehldiagnosen beitragen (angepasst nach [20]).
Verlegung/ÜbergabeSchichtwechsel
Verlegung in eine andere Abteilung
ZeitdruckVolle Sprechstunden
Häufige Störungen/Unterbrechungen
Ärztliche FaktorenMüdigkeit, Schlafmangel
Überlastung, Stress
Patientenbezogene ­FaktorenKlinisch komplexe Fälle
Auf der Beziehungsebene komplexe Fälle
Gegenübertragung
Umfeld-/Arbeitsteam­bedingungenBetreuung
Fach- vs. allgemeinärztliche Abteilung
Abteilungskultur («Groupthink»)
Zu den häufigsten bei Ärzten vorkommenden Verzerrungen gehören (Tab. 3): der Anker-Effekt, der darin besteht, sich auf bestimmte klinische oder paraklinische Aspekte zu fokussieren und die diagnostische Ausgangshypothese trotz des Vorliegens neuer Informa­tionen nicht zu revidieren; der Verfügbarkeitsfehler, der die Tendenz beschreibt, sich an eindrückliche oder kürzlich stattgefundene Ereignisse besser zu erinnern und so ihre Prävalenz zu überschätzen. Ein Bestätigungsfehler tritt dann auf, wenn wir nur die Aspekte berücksichtigen, die unsere diagnostische Ausgangshypothese bestätigen, ohne nach eventuellen Widersprüchen zu suchen. Weiter ist der Momentum-Effekt zu nennen, der dann auftreten kann, wenn ein Patient einen «Diagnosestempel» erhält, der von Arzt zu Arzt unhinterfragt übernommen wird. Ein weiterer Fehler ist die emotionale Verzerrung, bei der Emotionen zum Tragen kommen, die in der Arzt-Patienten-Beziehung entstanden sind und den Entscheidungsprozess beeinflussen können.
Tabelle 3: Häufige kognitive Verzerrungen bei Ärzten (angepasst nach [11]).
Anker-EffektDie diagnostische Ausgangshypothese wird nicht revidiert, selbst wenn neue Informationen vorliegen.
BestätigungsfehlerEs werden lediglich die Aspekte berücksichtigt, welche die Hypothese bestätigen, ohne nach Widersprüchen zu suchen.
Momentum-EffektDer Patient erhält einen «Diagnosestempel», der von Arzt zu Arzt übernommen wird.
VerfügbarkeitsfehlerDer Arzt erinnert sich eher an ein eindrückliches oder kürzlich stattgefundenes Ereignis.
Emotionale VerzerrungDie Tendenz, eine Diagnose aufgrund positiver oder negativer Gefühle bzw. aufgrund von Vorurteilen gegenüber dem Patienten zu favorisieren oder auszuschliessen. Dies kann beispielsweise bei abhängigen Patienten oder bei Patienten mit psychischen Störungen der Fall sein bzw. solchen, zu denen eine schwierige Beziehung besteht oder welche ­unkooperativ sind.
Alle oben genannten Verzerrungen können zu einem verfrühten Abschluss der Diagnostik führen. Dies ist der häufigste Fehler im Diagnoseprozess. Dabei wird die Diagnostik zu früh abgebrochen, ohne ausreichend auf Differentialdiagnosen eingegangen zu sein, wodurch nicht alle Hypothesen untersucht werden [19].
Neben den beschriebenen kognitiven und den äusseren Faktoren («situated cognition»), welche das Clinical Reasoning beeinflussen, gibt es weitere Faktoren, die zu Fehldiagnosen beitragen und eher mit der Persönlichkeit des Arztes zusammenhängen, wie Selbstüberschätzung, fehlende Selbsthinterfragung oder das Nichteingeständnis der eigenen Schwächen [10].

Was kann man tun, um das Risiko für Fehldiagnosen zu verringern?

Um das Risiko für Fehldiagnosen zu verringern, wurden verschiedene Strategien vorgeschlagen. Diese leiten sich direkt aus den oben genannten Theorien ab und sind entweder vom Arzt selbst, bei der Arbeitsorganisation, im Gesundheitssystem oder in der medizinischen Ausbildung umzusetzen. Leider hat sich keine davon als besonders überzeugend erwiesen [8].
Erfahrene Ärzte zur systematischen Anwendung eines analytischen statt eines nichtanalytischen Reasoning zu zwingen, hat zum Beispiel nicht zu einer Verringerung der Fehldiagnosen, sondern nur zu einer unnötigen Verzögerung der Abläufe in der Praxis geführt [8]. Trotzdem empfehlen wir, sich anzueignen, unter welchen Bedingungen ein ausführlicheres Reasoning sinnvoll sein kann (einige Beispiele in Tab. 2). Generell ist es empfehlenswert, die «Good Practices» des Clinical Reasoning anzuwenden (Tab. 4).
Tabelle 4: «Good Practices» des Clinical Reasoning [9, 11, 20, 23, 24].
A) Seinem ersten Eindruck vertrauen, sich jedoch angewöhnen, diesen ­anhand von drei einfachen ­Fragen zu überprüfen, um einen verfrühten ­Abschluss der Diagnostik zu ver­meiden [23]:1. Stimmen alle Aspekte mit meiner Diagnose überein? Erklärt meine Hypothese die bei ­diesem Patienten festgestellten Aspekte?
2. Welche Diagnose darf ich in dieser Situation nicht vergessen?
3. Wenn es nicht das ist, woran ich denke, was könnte es dann sein? 
B) Anerkennen, dass bestimmte ­Umstände oder ­Situationen mit ­einem erhöhten Risiko für kognitive ­Verzerrung einhergehen könnenÄussere Faktoren (Arbeitsklima, volle Sprechstunde, häufige Unterbrechungen usw.)
Persönliche Faktoren (Müdigkeit, Stress, persönliche oder gesundheitliche Probleme usw.)
Patientenbezogene Faktoren (schwierige Arzt-Patienten-Beziehung, unkooperativer Patient usw.)
C) Sich nicht ausschliesslich auf sein eigenes ­Gedächtnis verlassen und ­wissen, wann einschlägige Quellen konsultiert werden solltenEvidenzbasierte Daten konsultieren (klinische Literatur, Guidelines usw.)
«Entscheidungsfindungshilfen» (in Papierform oder elektronisch)
D) In komplizierten FällenSich mit anderen Kollegen beraten (Qualitätszirkel, Fachärzte usw.) [24]
Des Weiteren hat Norman vor Kurzem die Bedeutung der medizinischen Kenntnisse des jeweiligen Arztes und ihrer Organisation für eine korrekte Diagnosestellung betont [8]. Sowohl beim nichtanalytischen Reasoning, bei dem zuvor erlebte konkrete Situationen erinnert werden, als auch beim analytischen Reasoning, bei dem anhand Symptomen, Anzeichen oder paraklinischer Untersuchungen Hypothesen aufgestellt werden, spielen der Umfang und die Organisation der medizinischen Kenntnisse des je­weiligen Arztes eine entscheidende Rolle. Ausgehend davon sind Verbesserungsmöglichkeiten für Ärzte vorstellbar, die Pro­bleme bei der korrekten Diagnosestellung haben.
Auch im Gesundheitssystem können zusätzliche spezifische Massnahmen in Betracht gezogen werden, um das Risiko für Fehldiagnosen zu reduzieren. Auf diese detailliert einzugehen, würde über das Ziel dieses ­Beitrags hinausgehen. Im Folgenden sollen jedoch die Schlussfolgerungen des IOM-Berichts aus dem Jahr 2015 angeführt werden, in dem empfohlen wird [2, 3]:
– bei der Diagnostik eine effektivere Zusammen­arbeit zwischen Gesundheitsfachleuten, Patienten und ihren Familien zu fördern;
– die Ausbildung und das Training der Gesundheitsfachleute im Bereich Diagnostik zu verbessern (mit Fokus auf diagnostische Kompetenzen und Feedback bei der Diagnostik);
– Informationstechnologien (Computerprogramme) zu entwickeln, welche die Diagnostik vereinfachen;
– ein vertrauensvolles Klima zu schaffen, in welchem Feedback und Kommunikation als wertvoll angesehen und Fehldiagnosen nicht gerügt werden.
In den medizinischen Fakultäten sollten ein Training in Entscheidungsfindung und Clinical Reasoning sowie das Erlernen von Faktoren, die das Auftreten von Fehldiagnosen beeinflussen können, Bestandteil jedes Lehrplans sein [20].
Zukunftsperspektiven sind nach wie vor in der aktiven Forschung im Bereich der menschlichen Kognition und des Clinical Reasoning, jedoch auch (wie vom IOM betont) in konkreten Tools zur computergestützten ­Diagnostik zu sehen. Der Nutzen letzterer ist jedoch noch durch offizielle Studien nachzuweisen. Unserer Ansicht nach besteht der vielversprechendste Ansatz zweifellos darin, die Leistungsfähigkeit von Computerprogrammen, die Zugriff auf riesige Datenbanken haben, mit der diagnostischen Erfahrung des Arztes im direkten Kontakt zu seinem Patienten zu kombinieren.

Das Wichtigste für die Praxis

• In der ambulanten Versorgung erhält schätzungsweise jeder 20. Patient eine Fehldiagnose und ca. 30% der gerichtlichen Klagen im medizinischen Bereich gehen auf das Konto von Fehldiagnosen.
• Ärzte müssen Entscheidungen oft sehr schnell treffen. Die Entscheidungsfindung wird dabei durch Heuristiken genannte, kognitive Strategien vereinfacht, welche die «Verkürzung von Denkvorgängen» ermöglichen, um zu einer schnellen Entscheidung zu gelangen. Meist haben diese eine hohe Erfolgsrate, können aber auch zu Fehldiagnosen führen.
• Bestimmte Situationen bergen ein erhöhtes Risiko für kognitive Verzerrungen: die Verlegung von Patienten, Zeitdruck sowie bestimmte ärzt­liche (Stress, Müdigkeit) oder patientenbezogene Faktoren (klinisch oder auf der Beziehungsebene komplexe Fälle).
• Das Erkennen dieser Situationen erlaubt, beim Clinical Reasoning ausführlicher vorzugehen und so das Risiko kognitiver Fehler zu verringern.
Wir danken unserem Freund und Kollegen, Prof. Dr. med. Mathieu Nendaz, für das kritische Lektorat des Artikels und seinen Beitrag im Bereich des Clinical Reasoning als international anerkannter Fachexperte. Die in diesem Beitrag verwendeten Literaturangaben würdigen die Bedeutung seiner Arbeit auf diesem Gebiet.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Matteo Monti
Médecin associé
Service de médecine interne
CHUV et unité pédagogique, FBM-UNIL
Rue du Bugnon 21
CH-1011 Lausanne
matteo.monti[at]chuv.ch
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(abgerufen am 27.3.2017)
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