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Eine krankheitsassoziierte Mangelernährung tritt heute immer häufiger auf, da chronische Erkrankungen oft einen langen Verlauf haben und in vielen Fällen – gerade bei dem immer grösser werdenden Anteil älterer Menschen – Komorbiditäten mitwirken. So rechnet man, dass in 20–60% der Fälle hospitalisierter internistischer Patienten – je nach Definition und untersuchter Personengruppe – Zeichen einer Mangelernährung vorhanden sind.
Trotz dieser wiederholt festgestellten Tatsache wird im klinischen Alltag die Mangelernährung oft nicht systematisch erfasst und behandelt.
Dies soll sich ändern – im Artikel von Zurfluh et al. in der aktuellen Ausgabe des Swiss Medical Forum werden schweizerische und europäische Leitlinien zur systematischen Abklärung und Behandlung einer Mangelernährung bei polymorbiden internistischen Patienten vorgestellt [1]. Sie basieren auf einem Konsens von Ernährungsexperten, die sich zu diesen für die Praxis anwendbaren Leitlinien geeinigt haben. Wenn vorhanden, wurden einzelne Punkte durch Angabe des Evidenzgrades unterlegt.
Warum sind solche Leitlinien nötig und warum werden Ernährungsempfehlungen immer noch zu wenig umgesetzt?
Ein Grund dafür ist vermutlich, dass die wissenschaftliche Datenlage für die Wirksamkeit von Ernährungstherapien traditionell relativ dünn ist. Die klinische Ernährungstherapie ist anfällig für «Bias» –beispielsweise sind diejenigen, die behandelt werden können, eher die «Gesünderen». Diese Argumentation wird untermauert durch Daten von relativ kleinen Studien, die zeigen, dass eine Behandlung der Malnutrition mit oralen Trinknahrungssupplementen mit verbesserter Prognose einhergeht [2]. Dies könnte mindestens zum Teil bedingt sein dadurch, dass weniger kranke Patienten eher Supplemente akzeptieren als schwerkranke. Ebenso ist es trügerisch, eine vorhandene Malnutrition direkt mit erhöhter Mortalität in Zusammenhang zu bringen [3]; vielmehr ist eine Malnutrition oft Zeichen der Schwere einer Erkrankung. Ihre Korrektur muss – je nach Grundkrankheit – nicht unbedingt die Prognose verbessern.
In den letzten zehn Jahren wurden wesentliche neue Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Ernährung von Schwerkranken auf Intensivstationen durch grosse, randomisierte kontrollierte Studien gewonnen. Diese ergaben zum Teil überraschende Befunde – zum Beispiel war in der EpaNic-Studie die Erholung von Intensivpatienten bei früher parenteraler Ernährung im Vergleich zu später Ernährung nicht verkürzt, sondern verzögert [4]. Auch andere Studien auf Intensivstationen zeigten keinen günstigen Effekt einer frühen Ernährungstherapie [5]. Eine Studie aus der Schweiz ergab zwar eine geringere Häufigkeit von nosokomialen Infekten in einem bestimmten Zeitfenster nach Eintritt auf der Intensivstation bei assistierter parenteraler Ernährung [6], der übrige Verlauf war jedoch nicht günstiger. Diese Studien weisen darauf hin, dass das «Bauchgefühl» – dass eine aktive Ernährungstherapie bei Malnutrition die Prognose verbessert – nicht immer stimmt.
Sie weisen den Weg in die Zukunft – es sollten mehr grosse randomisierte Studien zur Ernährungstherapie auch bei Nicht-Intensivpatienten durchgeführt werden. So läuft gegenwärtig eine solche Studie bei internistischen polymorbiden Patienten in der Schweiz (EFFORT-Studie, [7]) und wir erwarten die Resultate mit Spannung.
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung gegenüber der assistierten Ernährung ist ihre ethische Dimension. Dieser Aspekt ist in den erwähnten Leitlinien nicht wirklich angesprochen. Die Feststellung der Mangelernährung und ihre Behandlung ist nicht nur eine technische Angelegenheit. Ernährung beinhaltet eine wesentliche psychologische und persönliche Komponente – nicht oder nicht genug essen können oder wollen ist oft Ausdruck einer schweren Erkrankung. Der Wille und Wunsch des Patienten zur aktiven Ernährungstherapie ist nicht immer gegeben. Deshalb ist bei einer Empfehlung der Wunsch des Patienten entscheidend, ob eine Intervention, die allenfalls gastrointestinale Nebenwirkungen haben kann wie die Sondenernährung [8], durchgeführt werden soll oder nicht.
Immer mehr Patienten treten in die Klinik mit einer Patientenverfügung ein. Die Frage, ob bei einer ernsthaften Erkrankung eine künstliche Ernährung durchgeführt werden soll oder nicht, ist ein wesentliches Element in diesen Verfügungen, zum Beispiel derjenigen der FMH und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) [9]. Der Patient hält fest, ob eine künstliche Ernährung durchgeführt werden soll oder nicht. Zudem besagen die SAMW-Richtlinien zur «Palliative Care» [10], dass relativ oft bei fortgeschrittenenen schweren Erkrankungen kein Bedürfnis mehr nach Flüssigkeit oder Nahrung bestehe und der Einsatz einer künstlichen Hydrierung eine sorgfältige Abwägung von erwarteter Wirkung und unerwünschten Nebenwirkungen erfordere.
Die «American Geriatrics Society» rät bei fortgeschrittener Demenz ausdrücklich von einer Sondenernährung ab [11].
Trotz allem ist nach wie vor klar, dass – schon aus grundsätzlichen Überlegungen der Physiologie – eine Mangelernährung über längere Zeit negative Konsequenzen für den Patienten haben wird. Es braucht zur Erkennung und zur Behandlung klare Handlungsanleitungen wie diejenige von Zurfluh et al. Es wäre auch wünschbar, dass diese Leitlinien eine breite Anwendung in Spitälern finden. Es ist aber ebenso klar, dass dies nur der Anfang im Bestreben sein kann, die assistierte Ernährung evidenzbasiert und patientengerecht in die Therapie hospitalisierter Patienten einzubauen.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Prof. emer. Dr. med. Ulrich Keller
FMH Endokrinologie-Diabetologie
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