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Schon vor dem eigentlichen Ausbruch einer psychotischen Erkrankung gibt es typische Verhaltensauffälligkeiten. Werden diese richtig bewertet, kann die Diagnose rechtzeitig gestellt und die Behandlung früh begonnen werden. Dieser Artikel zeigt auf, wie Fachpersonen, die im Erstkontakt mit psychosegefährdeten Menschen zu tun haben, den klinischen Verlauf und die Prognose konkret verbessern können.
Hintergrund
Die Schizophrenie und andere psychotische Störungen gehören zu den häufigsten Invaliditätsursachen bei jungen Erwachsenen weltweit [1] und machen ungefähr ein Viertel der Neu-Renten bei 25- bis 29-Jährigen in der Schweiz aus [2]. Obwohl der Symptomverlauf in ca. 40% als günstig eingestuft werden kann, weisen Patienten häufig auch nach erfolgreicher pharmakologischer Behandlung anhaltende Funktionseinbussen auf [3]; nur bei jedem 7. Patienten geht die Symptomremission mit einer ausreichenden Wiederherstellung des psychosozialen Funktionsniveaus einher [4].
Seit Langem ist bekannt, dass eine rechtzeitige Behandlung in den frühen Stadien den klinischen und funktionellen Verlauf psychotischer Störungen verbessert, negativen Konsequenzen wie sozialer Isolation, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit vorbeugt und das Eigen- und Fremdgefährdungsrisiko verringert [5]. Die Früherkennung und -behandlung von Psychosen wurde in den 1990er Jahren durch die Entwicklung von reliablen Kriterien für die Identifikation von Personen mit einem erhöhten Psychoserisiko weltweit in spezialisierten Zentren eingeführt [6]. Die vorliegende Übersicht fasst die wichtigsten Begriffe, Konzepte und Empfehlungen für die Früherkennung und -behandlung psychotischer Störungen zusammen.
Psychosenprävention
Der Begriff Prävention umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansätze, von der universellen (ausgerichtet auf die Allgemeinbevölkerung) bis hin zur selektiven (ausgerichtet auf Personen mit einer erhöhten Veranlagung für eine Erkrankung) und indizierten Prävention (ausgerichtet auf Personen, die bereits Frühzeichen einer Erkrankung aufweisen) [7]. Erstere zwei Ansätze können aktuell wenig wirkungsvoll in der Psychoseprävention eingesetzt werden, da die Inzidenz einer psychotischen Störung in der Allgemeinbevölkerung sehr gering und das Wissen über ätiologische Faktoren noch ungenügend ist [8].
Eine effektive indizierte Psychoseprävention wurde durch die Beobachtung möglich, dass die Mehrzahl der Patienten mit einer ersten psychotischen Episode bereits mehrere Jahre vor Ausbruch der Psychose psychische Symptome sowie deutliche Einbussen in ihrem psychosozialen Funktionieren zeigen [6, 9], was zu einem zunehmenden Interesse an der klinischen Beschreibung der frühen Stadien einer Psychose führte. Hierbei entstand der Begriff prodromal oder, im englischen Sprachraum, Risikostatus («clinical high risk» [CHR] oder «at-risk mental state» [ARMS]), um die Phase zu beschreiben, in der potentielle prodromale Symptome im Vorfeld einer psychotischen Erstmanifestation («first episode psychosis» [FEP]) vorhanden sind [6]. Durch Forschungsbemühungen der letzten zwei Jahrzehnte entstand ein theoretisches Staging-Modell, das den aktuellen Konsens hinsichtlich des frühen Psychosenverlaufs darstellt [10, 11] (Abb. 1). Symptome, die auf ein potentielles Psychoseprodrom hinweisen, werden in Tabelle 1 zusammengefasst.

Abbildung 1: Verlaufsmodel psychotischer Störungen (nach [6]).Universelle Prävention:Prävention auf Allgemeinbevölkerungsebene.Selektive Prävention(Stadium 0): frühe prämorbide Interventionen bei Vorliegen elterlicher, perinataler, sozialer oder weiterer Risikofaktoren, bereits bevor Symptome auftreten.Indizierte Prävention(Stadium 1): Interventionen beim Vorliegen von kriterienrelevanten Risikosymptomen.Behandlung / sekundäre Prävention(Stadium 2): Spezialisierte Interventionsangebote nach dem Beginn der Erkrankung.
Tabelle 1: Anhaltspunkte für die Zuweisung zur spezialisierten Psychosen-Früherkennungsdiagnostik. |
Änderungen des sozialen Verhaltens ohne erkennbaren Grund, z.B. sozialer Rückzug, seltsame Verhaltensweisen, «Wesensänderung» |
Übermässige Beschäftigung mit ungewöhnlichen, übernatürlichen, esoterischen, philosophischen, religiösen etc. Inhalten |
Änderungen in der Wahrnehmung, der Denkabläufe, -inhalte oder der kognitiven Fähigkeiten, die subjektiv von der Person als belastend erlebt werden (s. auch Tabelle 2, Basissymptome) |
Störungen des Denkens (z.B. Misstrauen, Verfolgungs- oder Grössenideen) oder der Wahrnehmung (Illusionen, Halluzinationen, Ich-Störungen), die häufiger vorkommen und die Person beunruhigen oder das Verhalten beeinträchtigen (s. auch Tabelle 3, Ultrahochrisiko-Symptome) |
Neu auftretende, subjektive oder objektivierbare, formale Denkstörungen |
Leistungsknick bei Personen mit einer genetischen Veranlagung für Schizophrenie |
Diagnostik des Risikostatus und der ersten psychotischen Episode – «best practice»
Um eine zuverlässige Risikoeinschätzung für eine zukünftige Psychosemanifestation zu ermöglichen, wurden in den 1990er Jahren zwei Ansätze zur Definition und zu Kriterien des Risikostatus methodisch erarbeitet: das Basissymptom- und das Ultrahochrisiko-(«ultra-high-risk» [UHR])-Konzept [9].
Basissymptom-Konzept
Das Konzept der Basissymptome bezieht sich auf frühe («psychosefernes Prodrom»), subjektiv wahrgenommene Beeinträchtigungen insbesondere der Kognition und Wahrnehmung, die im Vorfeld einer Psychose vom Patienten selbst wahrgenommen werden. Zur Erhebung von Basissymptomen dienen die semistrukturierten Interviews «Schizophrenia Proneness Instrument – Adult Version» (SPI-A) für Erwachsene [12] sowie «Schizophrenia Proneness Instrument– Child and Adolescent Version» (SPI-CY ) für Kinder und Jugendliche [13] (Tab. 2).
Tabelle 2: Relevante Symptome für die Definition eines Risikostatus mit Basissymptomen gemäss den «Schizophrenia Proneness Instruments» (SPI-A und SPI-CY). Zwei mit diesen Instrumenten erfasste Symptomen-Cluster gelten als prädiktiv für eine zukünftige psychotische Entwicklung [69]: (a) kognitive Basissymptome («cognitive disturbances» [COGDIS]): Präsenz von mindestens 2 der Symptome 1–9 innerhalb der letzten 3 Monate; (b) kognitiv-perzeptive Basissymptome («cognitive-perceptive disturbances» [COPER]): mindestens 1 der Symptome 5–14 für einen Zeitraum länger als 12 Monate. |
Allgemeine Kriterien |
Für die Bewertung als Basissymptome müssen die Symptome:• mit voller Einsicht als Abweichung vom normalen Zustand erlebt werden und • mit subjektivem Leidensdruck verbunden sein. |
Der Schwerpunkt liegt beim subjektiven Erleben; eine Beobachtung durch Dritte ist nicht nötig. |
Diagnoserelevante Basissymptome |
1. Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit zu spalten zwischen einfachen Aufgaben (z.B. während eines Telefonats etwas notieren oder beim Fahren Radio hören) |
2. Störung der Symbolerfassung: Konkretismus |
3. Fesselung,Bannung durch optische Wahrnehmungsdetails: die Aufmerksamkeit wird von optischen Details gefesselt, bestimmte Objekte oder Details scheinen hervorzustechen |
4. Störung der expressiven Sprache: Gefühl, dass man sich nicht mehr so akkurat ausdrücken kann wie früher bzw. nicht mehr die richtigen Worte findet |
5. Gedankeninterferenz: der Gedankengang oder die Konzentration wird von Gedanken unterbrochen, die (im Gegensatz zum Grübeln) unwichtig, irrelevant und nicht emotional gefärbt sind |
6. Gedankendrängen: plötzliches Aufspringen von vielen unverbundenen oder ungeordneten Gedanken |
7. Gedankenblockaden: subjektives plötzliches Gefühl der Gedankenleere oder Gedankenunterbrechung |
8. Störung der rezeptiven Sprache: subjektive Schwierigkeit, einfache Gespräche oder Text zu verfolgen |
9. Eigenbeziehungstendenzen: flüchtige Beziehungsideen, welche die Person unmittelbar nach ihrem Erscheinen als unrealistisch erkennt |
10. Zwanghaftes Perseverieren: übermässige und störende Beschäftigung mit emotional neutralen Gedanken, welche die Person nicht stoppen kann |
11. Störung der Diskriminierung zwischen Vorstellungen und Wahrnehmungen bzw. zwischen Phantasie- und Erinnerungsinhalten |
12. Derealisation |
13.Optische Wahrnehmungsstörungen, z.B. Wahrnehmungsveränderungen am Gesicht oder an der Gestalt anderer Leute oder am eigenen Gesicht, Veränderungen der Wahrnehmung von Farbe, Bewegung, Entfernung, Form und Grösse von Objekten |
14. Akustische Wahrnehmungsstörungen: Veränderung der Intensität bzw. Qualität von Gehörswahrnehmungen |
Ultrahochrisiko-Konzept (UHR)
Die UHR-Kriterien wurden ursprünglich entwickelt, um ein imminentes Psychoserisiko in Verlauf der folgenden zwölf Monate («psychosenahes Prodrom») zu erfassen. Sie beinhalten (a) attenuierte psychotische Symptome (APS), (b) kurz anhaltende, spontan remittierende psychotische Symptome («brief limited intermittent psychotic symptoms» [BLIPS]) sowie (c) das Kriterium eines genetischen Risikos mit begleitendem Leistungsknick [14, 15] (Tab. 3). Die bekanntesten und weltweit verbreiteten Instrumente für die Erfassung des UHR-Status sind das «Structured Interview of Prodromal Syndromes» (SIPS) [14] sowie das «Comprehensive Assessment of At-Risk Mental States» (CAARMS) [15]. Diese Instrumente verwenden unterschiedliche, jedoch ähnliche Operationalisierungen der UHR-Kriterien.
Tabelle 3: Kriterien für die Definition eines Ultrahochrisikostatus (UHR) und der psychotischen Transition/Erstmanifestation Psychose anhand des «Structured Interview of Prodromal Syndromes» (SIPS) und des «Comprehensive Assessment of At-Risk Mental States» (CAARMS). | |
Allgemeine Kriterien | Definition |
Diagnoserelevante Symptome | Ungewöhnliche Denkinhalte: perplexe und wahnhafte Stimmung, Ich-Störungen, Telepathie, überwertige Überzeugungen (Aberglaube, Philosophie, Religion, Politik), somatische, nihilistische oder Schuldideen, Beziehungsideen |
Misstrauen/Verfolgungsideen, z.B. Idee, ausgegrenzt, beobachtet oder verfolgt zu werden | |
Grössenideen, z.B. Idee, besonders talentiert oder begabt zu sein, unrealistische Pläne und Ziele | |
Abweichungen in der Wahrnehmung, Illusionen, Halluzinationen | |
Desorganisierte Sprache, z.B. Vorbeireden, Abschweifen, seltsame Denk- und Sprechweise, Gedankenblockaden, assoziative Lockerung oder Zerfahrenheit | |
Substanzinduzierte Symptome | Symptome mit einem starken zeitlichen Zusammenhang zum Konsum von psychotropen Substanzen werden nicht für die Diagnose eines Hochrisikostatus berücksichtigt |
Ultrahochrisikostatus | |
Attenuierte Psychotische Symptome (APS):Vorliegen diagnoserelevanter Symptome in abgeschwächter Form. Der Schweregrad wird anhand der subjektiven Belastung, der Auswirkung auf das Alltagsleben sowie der Bedeutungszuschreibung bzw. des Ausmasses des Realitätsverlustes definiert. | |
Beispiele | Ideen, die von den kulturellen Normen klar abweichen (z.B. abergläubische oder philosophische Überzeugungen), jedoch das Verhalten wenig beeinflussen |
Ideen (z.B. Verfolgungs-, Beziehungs-, Grössenideen), die nicht leicht verworfen werden können, jedoch mit noch intakter Skepsis oder Offenheit für gegenteilige Beweise oder Meinungen | |
Wahrnehmungsänderungen, welche die Person beängstigen, jedoch als nicht real erkannt werden | |
Halluzinationen, die von der Person als möglicherweise real erlebt werden, wobei Zweifel noch hervorgerufen werden können | |
Sprachumständlichkeit, Vorbeireden, Sprachstereotypien o.Ä. mit resultierender Schwierigkeit, auf den Punkt zu kommen, jedoch ist eine Gesprächsstrukturierung durch den Interviewer (z.B. durch kürzere Fragen) möglich. | |
Kurz anhaltende selbstlimitierende psychotische Symptome(«brief limited intermittent psychotic Symptoms»): Vorliegen diagnoserelevanter Symptome in voller psychotischer Ausprägung (s.u. für Definition und Beispiele), die innerhalb von maximal einer Woche spontan remittieren. | |
Genetisches Risiko mit Leistungsknick: Vorliegen einer psychotischen Störung bei Angehörigen 1. Grades oder Erfüllung der Kriterien für eine schizotype Persönlichkeitsstörung beim Patienten selbst und zusätzlich signifikanter Abfall des sozialen oder beruflichen Funktionsniveaus im letzten Jahr. | |
Psychotische Transition / Erstmanifestation Psychose | |
Vorliegen diagnoserelevanter Symptome in voller psychotischer Ausprägung, die für einen Zeitraum länger als eine Woche mit nahezu täglicher Frequenz vorhanden sind und nicht spontan remittieren. Die psychotische Ausprägung wird vorwiegend anhand des Realitätsverlustes definiert, für formale Denkstörungen anhand der Ansprache auf die Gesprächsstrukturierung. In der SIPS gelten schwer desorganisierende Symptome oder Symptome mit resultierender Eigen- und Fremdgefährdung unabhängig von ihrer Dauer als psychotische Transition/Erstmanifestation. | |
Beispiele | Wahnhafte Überzeugungen, gegen die keine Zweifel hervorgerufen werden können und die in der Regel das Funktionsniveau stark beeinträchtigen |
Halluzinationen, die ohne Zweifel als real erlebt werden, wahnhaft interpretiert werden oder das Verhalten eindeutig beeinflussen | |
Zerfahrene Sprache, die nicht auf Gesprächsstrukturierung anspricht |
Psychotische Transition
Der Begriff Transition bezieht sich auf die erstmalige Entwicklung einer vollständig ausgeprägten psychotischen Episode bei CHR-Patienten. Die oben genannten diagnostischen Instrumente beinhalten «cut-off»-Kriterien für die Definition der Transition anhand der Frequenz, Dauer und Ausprägung der Symptome (Tab. 3).
Bedeutung der Diagnose eines erhöhten Psychoserisikos? Verlauf und Prognose
Gemäss aktuellen Metaanalysen beträgt bei Vorliegen eines CHR-Status nach den oben beschriebenen Kriterien die Transitionswahrscheinlichkeit ca. 36–37%; die meisten Transitionsfälle erfolgen in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Feststellung eines erhöhten Psychoserisikos [6, 9] und haben in der Mehrzahl der Fälle als Ergebnis die Diagnose einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis [16].
Aus den obigen Zahlen folgt, dass CHR-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zwar ein erheblich höheres Risiko für die Entwicklung psychotischer Störungen aufweisen, allerdings die Mehrheit dieser Patienten (etwa zwei Drittel) keine solche Störung entwickeln werden. CHR-Screening-Instrumente sind durch eine hohe Sensitivität (96%), jedoch nur moderate Spezifität (47%), gekennzeichnet [17] und somit besteht ihr Nutzen vorrangig im Ausschliessen einer zukünftigen psychotischen Entwicklung als in der Vorhersage einer Transition [18]. Zudem zeichnet sich in den letzten Jahren ein Rückgang der Transitionsraten bei CHR-Patienten [19] ab, die sich nicht alleine durch die frühzeitige Behandlung erklären lässt [20]. Es wird nahegelegt, dass das abnehmende Transitionsrisiko einen «Verdünnungseffekt» aufgrund einer zu niedrigschwelligen Anwendung des CHR-Konzeptes auf ungeeignete Personengruppen darstellt [19]. Die Europäische Psychiatrische Gesellschaft empfiehlt entsprechend in ihrer Leitlinie zur Psychosenfrüherkennung, dass eine Bestimmung des Psychoserisikos nur bei hilfesuchenden Personen, die sich mit psychischen Beschwerden vorstellen oder eine Klärung ihres aktuellen Risikos bei genetischer oder sonstiger Veranlagung wünschen, stattfinden sollte [9].
Besonderheiten der Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen
Bei jungen Kindern treten psychotische Symptome wie akustische Halluzinationen mit hoher Prävalenz auf (ca. 9%), allerdings haben solche Symptome oft keinerlei klinische Relevanz und remittieren spontan im Verlauf [21]. Bei Jugendlichen wurde in einer kürzlichen Studie mittels Telefonbefragung auch eine hohe Punktprävalenz von APS von 13,8% festgestellt, in den meisten Fällen erfüllten diese jedoch anhand ihrer Häufigkeit nicht die diagnostische Schwelle für ein erhöhtes Psychoserisiko [22]. Vor diesem Hintergrund ist bei der Abklärung von minderjährigen Patienten hinsichtlich Psychoserisiko Vorsicht geboten. Es wird empfohlen, dass die Befundinterpretation und -mitteilung durch Spezialisten mit Erfahrung in der Früherkennung psychotischer Störungen bei Jugendlichen erfolgen [21]. Die Symptomatik einer Psychose nähert sich mit zunehmendem Alter derjenigen der Erwachsenen an, der Verlauf kann bei Jugendlichen jedoch fluktuierender sein [23]. Vor dem Hintergrund einer komplexen Störung und anspruchsvollen Diagnostik im Jugendalter sind Früherkennungsangebote mit der Möglichkeit einer Behandlungskontinuität ins junge Erwachsenenalter hinein ein wichtiger Bestandteil einer psychiatrischen Versorgung.
Prädiktoren einer psychotischen Transition
Angesichts der oben aufgeführten Limitationen des Psychoserisiko-Screenings hat sich im letzten Jahrzehnt die Identifikation von Variablen oder Variablenkombinationen, die zur Verbesserung der Prädiktion einer zukünftigen psychotischen Transition respektive des klinischen Verlaufes beim einzelnen Patienten beitragen können, als sehr bedeutender Forschungsschwerpunkt entwickelt. In einer Vielzahl von Studien wird untersucht, in wie fern bestimmte Kombinationen von Hochrisikosymptomen mit einer besonders erhöhten Transitionswahrscheinlichkeit einhergehen. Obwohl die Befundlage eine gewisse Variabilität aufweist, gibt es einige Übereinstimmungen. So gelten eine höhere Ausprägung der Risikosymptome [24] sowie das gleichzeitige Erfüllen von UHR- und «cognitive disturbances»(COGDIS)-Kriterien [25] als Zeichen, die auf eine höheres Transitionswahrscheinlichkeit hinweisen.
Zusätzliche Variablen aus verschiedenen Bereichen wie zum Beispiel soziodemographische Daten, kognitive Leistung, Bildgebung und Elektrophysiologie [6, 26] können zur Erhöhung der Vorhersage (Prädiktion) beitragen. Mehrere aktuelle Studien streben durch die Analyse grosser multizentrischer Datenmengen unter Anwendung computerbasierter Lernalgorithmen an, individualisierte Einschätzungen der Transitionswahrscheinlichkeit [27–29] bei Hochrisikoindividuen zu ermöglichen.
Transition: nicht der einzige relevante Outcome
Frühe Verlaufsuntersuchungen bei Hochrisikopatienten setzten den Schwerpunkt auf die psychotische Transition. Neuere Studien weisen jedoch darauf hin, dass weitere Outcomes ebenso sinnvoll und behandlungsrelevant sind. Studien an Hochrisikopatienten, die keine psychotische Störung entwickelten, legen nahe, dass mindestens ein Drittel dieser Patienten langfristig anhaltende oder rezidivierende APS aufweisen [30, 31] Die Mehrheit der nichttransitierten Patienten leidet zudem an nichtpsychotischen psychischen Störungen, insbesondere affektiven, Angst- oder Abhängigkeitsstörungen [31, 32], und zeigt langfristig funktionelle Defizite im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden [33]. Diese Beobachtungen haben hohe Behandlungsrelevanz: Es wird nahegelegt, dass APS in vielen Fällen ein Kennzeichen schwer ausgeprägter psychischer Erkrankungen wie etwa depressiver und Angststörungen darstellen können [34], in deren Fall die Behandlung der Haupterkrankung auch zur Remission des Hochrisikostatus führen könnte.
Behandlung beim klinischen Hochrisikostatus und Psychose-Erstmanifestation
CHR-Patienten zeigen, wie bereits erwähnt, auch andere ausgeprägte psychische Probleme und psychosoziale Beeinträchtigungen, unabhängig davon, ob sie eine Psychose im weiteren Verlauf entwickeln oder nicht. Daher ist das Ziel der indizierten präventiven Intervention in diesem Stadium nicht nur das Verhindern oder Verzögern einer psychotischen Transition, sondern auch die Behandlung komorbider psychischer Beschwerden wie Depression, Angst und Substanzmissbrauch sowie die Verhinderung oder Verbesserung psychosozialer Funktionsbeeinträchtigungen [11, 35, 36].
Nach der psychotischen Transition sind die Behandlungsziele ebenso vielfältig: Reduktion der Dauer der unbehandelten Psychose; Optimierung der Wirkungen der medikamentösen Behandlung; Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens, der Funktionalität und der sozialen Kompetenzen; Verminderung der Belastung in der Familie; Behandlung von komorbidem Substanzmissbrauch; sekundäre Prävention eines sich verschlechternden Verlaufs [11].
Spezialisierte Frühinterventionsprogramme verfolgen die oben genannten Ziele durch ihren multidisziplinären Ansatz und integrative Behandlungsangebote (für eine Liste von Zentren in der Schweiz: www.swepp.ch). In der Tat reduziert eine spezialisierte Intervention nachweislich das Transitionsrisiko bei CHR-Patienten [37]; bei FEP tragen spezialisierte Frühinterventionsprogramme zur Reduktion der Dauer der unbehandelten Psychose bei [5] und reduzieren die Raten stationärer Behandlungen und unfreiwilliger Unterbringungen [38]. Mehrere nationale und internationale Leitlinien erkennen demnach spezialisierte Frühinterventionszentren als einen integralen Bestandteil der Behandlung bei beginnenden Psychosen [35, 36, 39].
Grundsatzfrage: Risiko-Nutzen-Debatte
Gegen das Konzept der Psychosefrüherkennung und -intervention werden auch Bedenken geäussert, insbesondere in Hinsicht auf die Risiken einer unnötigen Behandlung mit Antipsychotika respektive einer erhöhten Stigmatisierung von Patienten, die in ihrer Mehrheit keine psychotische Störung entwickeln werden [40]. Gegner dieser Ansicht weisen darauf hin, dass (a) eine (Selbst-)Stigmatisierung in der Regel bereits vor der ersten psychiatrischen Vorstellung besteht und in der Tat das Aufsuchen professioneller Hilfe verzögert [40, 41]; (b) ungefähr 20% der CHR-Patienten bereits bei der Zuweisung in ein spezialisiertes Zentrum, und entgegen der Richtlinienempfehlungen, mit Antipsychotika behandelt sind [42]; (c) CHR-Patienten vorwiegend ihre Symptome, und weniger ihre Diagnose, als stigmatisierend empfinden [43]. Es wird also dahingehend argumentiert, dass sowohl Stigmatisierung als auch medikamentöse Überbehandlung eher durch Vorurteile und Fehlinformation als durch die Befundmitteilung und Behandlung verursacht werden [40, 41]. Eine spezialisierte Früherkennung und -behandlung könnten solche Risiken sogar reduzieren – vorausgesetzt, dass die Limitationen der prädiktiven Diagnostik erkannt werden und allfällige Behandlungen über die Transitionsprävention hinaus auf eine Symptomentlastung und Verbesserung der Funktionalität zielen.
Psychologische Interventionen
Psychologische Interventionen bei ersten Psychosemanifestationen beinhalten unterschiedliche Elemente, die individuell oder im Gruppenformat angeboten werden können. Nebst einem Team mit Case-Manager-System bestehend aus unterschiedlichen Berufsgruppen ist die Kooperation mit dem Patienten nicht nur betreffend Psychopathologie und Medikation, sondern auch alltäglichen, finanziellen, beruflichen und interpersonellen Themen von grosser Bedeutung [44]. Ebenso sollen die Themen eines Substanzmissbrauchs sowie einer möglichen Suizidalität bearbeitet werden. Integral sind auch ein Psychoedukationsangebot sowie der intensive Einbezug der Familie. Häufig werden zusätzlich eine kognitive-behaviorale Therapie sowie ein Sozialkompetenztraining und berufliche Unterstützungsmassnahmen angeboten [11, 44]. Im Sinne einer aufsuchenden Hilfe werden die Kontakte zum Patienten unter Umständen nicht in der Klinik, sondern vielmehr in seinem eigenen Umfeld organisiert.
Psychologische Interventionen für CHR-Patienten beinhalten in der Regel dieselben Elemente eines Angebotes wie für Ersterkrankte. Basierend auf einem Vulnerabilitäts-Stress-Modell ist ein zentrales Behandlungsziel die Erarbeitung eines kognitiven Verständnisses der bestehenden psychotischen oder psychoseähnlichen Symptome [45]. Von Bedeutung ist die Vermittlung der Rolle diverser Stressfaktoren, die eine bestehende Symptomatik, einschliesslich kognitiver Denkstörungen (z.B. Störungen der sozialen Kognition oder der Informationsverarbeitung) verschlimmern. Somit lassen sich die folgenden Aspekte als wichtige Ansatzpunkte in der Behandlung von CHR-Patienten ableiten: Die Verminderung von Stressoren und die Verbesserung von Bewältigungsressourcen sowie die Bearbeitung dysfunktionaler Grundannahmen über das Auftreten der Symptomatik, sich selbst und andere Personen [46, 47].
Spezifische Interventionsangebote wie kognitive Verhaltens- oder Familientherapieprogramme für CHR-Patienten sind erfolgreich in der Behandlung von CHR-Patienten eingesetzt worden, es ist jedoch laut einer aktuellen Metaanalyse [48] noch fraglich, ob diese spezifischen Interventionen hinsichtlich Symptomremission effektiver als eine übliche bedürfnisorientierte Behandlung sind.
Pharmakologische Behandlung
CHR-Patienten
Verschiedene atypische Antipsychotika haben sich in klinischen Studien als wirksam für die Reduktion von Transitionsraten bei CHR-Patienten erwiesen. Aktuelle Metaanalysen zeigen allerdings, dass psychologische Interventionen in Hinsicht sowohl auf die Transitionsprävention [36, 48] als auch die Reduktion von APS [49, 50] und die Besserung des Funktionsniveaus [36] der medikamentösen Behandlung mit Antipsychotika gleichgestellt sind. Zudem sollte beachtet werden, dass APS im Verlauf auch unabhängig von der Behandlung hohe Remissionsraten (60–70%) zeigen [32, 51]. Internationale Leitlinien [35, 36] empfehlen daher den am wenigsten restriktiven Ansatz, nämlich psychologische Interventionen, als Behandlung erster Wahl bei Patienten mit einem erhöhtem Psychoserisiko. Eine Behandlung mit Antipsychotika sollte leitliniengemäss nur nach erfolgloser psychologischer Intervention oder bei Patienten mit schweren respektive fortschreitenden CHR-Symptomen erwogen werden [35, 36]. Auch in diesen Fällen sollten Antipsychotika zeitlich begrenzt zur klinischen Stabilisierung und Förderung der Wirksamkeit psychologischer Interventionen eingesetzt werden; eine langfristige prophylaktische Antipsychotikagabe wird nicht empfohlen [36].
Über Antipsychotika hinaus haben sich weitere Medikamente oder Neuroprotektiva als vielversprechend für die Behandlung von CHR-Patienten gezeigt. Die Modulatoren der NMDA-Rezeptoren D-Serin und Glycin wurden erfolgreich in der Behandlung positiver und negativer Symptome [52, 53] eingesetzt. Naturalistische Studien legen zudem nahe, dass Antidepressiva wirksam in der Prävention von psychotischen Transitionen sein könnten [54, 55]. Allerdings ist die Evidenzlage für diese Ansätze noch nicht ausreichend für eine reliable Empfehlung auf Leitlinienebene. Frühere positive Berichte in Bezug auf Omega-3-Fettsäuren [56, 57] konnten leider in einer neuen randomisierten kontrollierten Studie nicht bestätigt werden [58, 59].
Patienten mit einer Psychose-Erstmanifestation
Im Gegensatz zu CHR-Patienten sind Antipsychotika die Behandlung erster Wahl bei Patienten mit Psychose-Erstmanifestation [60]. Zu Beginn kann jedoch eine Antipsychotika-freie Beobachtungszeit von einigen Tagen zu diagnostischen Zwecken unter Gabe von Benzodiazepinen zur Linderung des Leidensdruckes, erwogen werden [61].
Patienten mit einer Psychose-Erstmanifestation unterscheiden sich von chronischen Patienten mit Schizophrenie in mehreren Hinsichten, sodass separate Empfehlungen für die klinische Praxis der medikamentösen Behandlung bei diesen Patienten gelten. So erreichen Antipsychotika eine klinisch bedeutende Wirksamkeit bei ca. 80% der Patienten mit Psychose-Erstmanifestation, deutlich höher als bei chronischen Patienten [62]. Andererseits zeigen Patienten in den frühen Stadien der Erkrankung eine höhere Empfindlichkeit gegenüber Nebenwirkungen als chronische Patienten [63]. Entsprechend empfehlen die meisten internationalen Leitlinien bei aktuell fehlenden Hinweisen auf bedeutende Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Präparaten, sich bei der Wahl des Antipsychotikums nach dem Nebenwirkungsprofil und den Patientenwünschen zu richten [60]. Atypika werden aufgrund ihres günstigeren Nebenwirkungsprofils bevorzugt [60]. Zudem sollte die niedrigste wirksame Dosis eingesetzt werden; die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) bietet konkrete Empfehlungen für die Dosierung von Antipsychotika bei FEP [64].
Obwohl es bei etwa 20% der Patienten lebenslang bei einer einzigen psychotischen Episode bleibt, weist die bestehende Evidenz eindeutig darauf hin, dass die prophylaktische Gabe von Antipsychotika in den ersten zwei Jahren nach einer ersten psychotischen Episode massgeblichen Schutz vor neuen Episoden gewährt [65, 66]. Demnach wird nach einer ersten psychotischen Episode eine Fortführung der Antipsychotikabehandlung für ein bis zwei Jahre empfohlen [60].
Problemfall Cannabiskonsum
Obwohl ein eindeutiger Kausalitätsnachweis noch aussteht, haben epidemiologische Studien mehrfach einen Zusammenhang zwischen regelmässigem oder schwerem Δ9-Tetrahydrocannabinol(THC)-Konsum und erhöhtem Psychoserisiko (auch über die Effekte der akuten Intoxikation hinaus) aufgezeigt, besonders bei der Wechselwirkung mit genetischen Faktoren, Konsum von hochpotenten Cannabissorten und Konsumbeginn in der frühen Adoleszenz [67, 68]. Anhand dieser Evidenzlage sollten Patienten mit erhöhtem Psychoserisiko oder einer Psychose-Erstmanifestation ermutigt werden, eine Cannabisabstinenz oder zumindest eine THC-Reduktion anzustreben.
Ausblick
Es kann gesagt werden, dass die letzten 20 Jahren nur den Schlusspunkt einer Anfangsphase in der Forschung an klinischen Hochrisikopatienten darstellt. Diese erste Phase war ausserordentlich produktiv und hat viele neue Einsichten zu den psychoseauslösenden Mechanismen gebracht und massgeblich zur Entstehung von klinischen Frühinterventionszentren beigetragen. Die nächste Forschungsphase auf diesem Gebiet ist aktuell von grossen Studien geprägt, die mehrere und nicht nur einzelne Zentren umfassen, und in denen Daten aus den unterschiedlichsten Forschungsmodalitäten integriert werden. Dadurch können mittels computerbasierter Lernalgorithmen, die Erkenntnisse für individuelle Patienten – und nicht nur Gruppen von Patienten – generieren, weitere Fortschritte für die Patientenversorgung erzielt werden.
Information und Ressourcen für Ärzte, Betroffene und Angehörige
– «Swiss Early Psychosis Project» – Informationen für Fachpersonen und Links zu Früherkennungs- und Frühbehandlungszentren in der Schweiz: www.swepp.ch (DE/FR/EN)
– «Basel Early Psychosis Service» (BEATS) – Allgemeine Informationen zu psychotischen Störungen, ihrer Früherkennung und Frühbehandlung sowie Ratgeber für Angehörige: https://beats.medizin.unibas.ch (DE/EN)
– «Programme Traitement et Intervention Précoce dans les troubles Psychotiques» (TIPP) – Informationsmaterial und -broschüren für Fachpersonen zu beginnenden psychotischen und bipolaren Störungen: www.chuv.ch/fr/psychiatrie/dp-home/en-bref/projets-de-developpement/programme-tipp/ (FR)
– Zürcher Impulsprogramm zur nachhaltigen Entwicklung in der Psychiatrie (ZINEP) – Allgemeine Informationen zu psychotischen und bipolaren Störungen und ihrer Früherkennung, Früherkennungs-Checkliste
Das Wichtigste für die Praxis
Zuweisung – Diagnostik – Befundinterpretation – Aufklärung
• Eine Psychoserisikodiagnostik sollte nur hilfesuchenden Personen mit psychischen Beschwerden oder genetischem Risiko angeboten werden.
• Die Diagnose eines erhöhten Psychoserisikos beruht auf konkreten, methodisch erarbeiteten Kriterien und bedarf deshalb einer Beurteilung durch eine Fachperson mit Expertise in diesem Bereich.
• (Nur) etwa ein Drittel der Patienten mit erhöhtem Psychoserisiko entwickelt im Verlauf eine Psychose, in der Regel innerhalb von 2–3 Jahren.
• Bei Kindern und Jugendlichen ist die Wahrscheinlichkeit einer psychotischen Entwicklung niedriger als bei Erwachsenen.
Behandlung
• Interventionen zur Reduktion allfälliger Depressions- und Angstsymptome bzw. des Substanzmissbrauchs sowie psychosoziale Unterstützung sollten allen Patienten angeboten werden.
• Bei Patienten mit erhöhtem Psychoserisiko sollten Antipsychotika leitliniengemäss erst nach erfolgloser psychologischer Intervention oder bei Patienten mit schweren bzw. fortschreitenden Symptomen erwogen werden.
• Bei Patienten mit gesicherter Diagnose einer Psychose-Erstmanifestation stellen niedrigdosierte (i.d.R. atypische) Antipsychotika die Behandlung erster Wahl dar.
• Eine zeitnahe Zuweisung in ein spezialisiertes Frühinterventionszentrum ist indiziert, da solche Zentren klinische Outcomes bei Patienten mit erhöhtem Risiko oder mit einer Psychose-Erstmanifestation verbessern können und von internationalen Leitlinien empfohlen werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
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Korrespondenz:
Prof. Dr. med.
Stefan Borgwardt
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CH-4012 Basel
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