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Im Beitrag «Fallstricke der Evidenz-basierten Medizin» in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum [1] beschreiben die beiden Autoren in überaus engagierter Art und Weise die Schwächen der Evidenz-basierten Medizin (EBM), meinen damit aber eigentlich die klinische Forschung. EBM und klinische Forschung sind keine Synonyme. Die klinische Forschung generiert die «Evidenz» und die «EBM» macht sich Gedanken darüber, wie zuverlässig oder valide diese Evidenz ist und was diese Evidenz für die klinische Praxis bedeutet und wie sie bei klinischen Entscheidungen eingesetzt werden kann oder soll.
Das Innovative an der EBM ist ja nicht der «gewissenhafte, genaue und umsichtige Gebrauch der besten Evidenz», sondern die von den Initianten der EBM entwickelte «Werkzeugkiste» für die kritische Beurteilung der Evidenz.
Wenn also jemand eine solche Studie zur Wirksamkeit von Lesebrillen macht, wie die Autoren in einem der Beispiele beschreiben, dann wird jeder, auch wenn er keinen einzigen Tag Medizin studiert hat, das Ergebnis dieser Studie als nicht valide beurteilen und damit für irrelevant halten. Das Gleiche gilt für das Beispiel zur Wirksamkeit von Fallschirmen.
Von den Autoren wird besonders die ORBITA-Studie [2] einer scharfen Kritik unterzogen und den Autoren der Studie eine Gefährdung von Patienten in «juristisch bedenklicher Art» vorgeworfen. Gemäss der COURAGE-Studie [3] und einer Metaanalyse anderer Studien [4] gibt es keine verlässliche Evidenz, dass eine perkutane koronare Intervention (PCI) bei Patienten mit einer stabilen Angina pectoris die Infarktinzidenz und/oder die Sterblichkeit reduziert. Die Autoren der ORBITA-Studie rechtfertigen die im Lancet publizierte Studie folgendermassen: Wenn eine PCI die Infarkt- und Sterblichkeitsraten nicht verbessert, dann bessern sich nach einer PCI eventuell die Symptome der koronaren Herzkrankheit. Diese Begründung wurde weder vom ethischen Komitee («London Central Research Ethics Committee») noch von den Reviewern der Publikation im Lancet in Frage gestellt. Der skandalisierende Vorwurf der «juristisch bedenklichen Gefährdung» von Patienten mag den Lesern Eindruck machen. Der Vorwurf ist, so lange keine plausiblen Argumente für diebedenkliche Gefährdung der Patienten vorgebracht werden, unhaltbar.
Das Ergebnis einer Studie ist Evidenz. Im Fall der ORBITA-Studie lässt sich die «Evidenz» in etwa folgendermassen beschreiben: Bei Patienten mit Angina pectoris und einer solitären Stenose einer Koronararterie (und noch anderen Charakteristika, die mit den Ein- und Ausschlusskriterien beschrieben sind) erhöht ein Stent – verglichen zu einer Sham-Intervention ohne Stent – die Zeit bis zum Auftreten von Angina unter Belastung nicht. Dieses Ergebnis ist nicht damit gleichzusetzen, dass man nie und nimmer bei diesen Patienten einen Stent einsetzen darf/soll. Vielleicht gibt es Gründe dafür, das zu tun. Als Nicht-Kardiologe kann ich mich dazu nicht äussern. Die beiden Autoren Meier und Nietlispach beurteilen die Studie als falsch konzipiert, unethisch und irrelevant. Für mich als neutralen Leser der Studie müssten sie plausible Argumente liefern, damit ich ihre Beurteilung nachvollziehen könnte.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Kopfbild: © Raquel Camacho Gómez | Dreamstime.com
Korrespondenz:
Prof. Dr. med. Johann Steurer
Horten -Zentrum für praxisorientierte Forschung und Wissenstransfer
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