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Das Cauda-equina-Syndrom ist ein sehr seltenes, aber schwerwiegendes neurologisches Zustandsbild. Ursächlich ist zumeist ein raumfordernder Prozess im lumbosakralen Spinalkanal mit Kompression der Cauda-equina-Fasern mit akuten neurologischen Ausfallserscheinungen. Eine frühzeitige Diagnosestellung und Therapie sind essentiell, um permanente und gravierende Funktionsstörungen zu vermeiden.
Hintergrund
Die Lebenszeitprävalenz von lumbalen Rückenschmerzen in der Bevölkerung wird auf 80% geschätzt, wobei 85–90% dieser unspezifisch sind [1]. Das Cauda-equina-Syndrom (CES) hingegen ist eine absolute Rarität und stellt nicht zuletzt deswegen für den Kliniker in der Praxis eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Die geschätzte Prävalenz eines CES bei Patienten, die sich beim Hausarzt wegen Rückenschmerzen vorstellen, liegt bei lediglich 0,04% [1]. In den USA führen gerade mal 0,12% aller Diskushernien zu einem CES [2]. Statistisch geht man gar davon aus, dass ein Hausarzt in seiner gesamten Karriere lediglich einen Patienten mit CES in seiner Praxis antreffen wird. Nichtsdestotrotz sollte zumindest die Verdachtsdiagnose eines CES von jedem Arzt rasch erhoben werden können, denn nebst sensomotorischen Defiziten und Schmerzen führt dieses Syndrom in der Regel auch zu Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktionsstörungen. Wird dieses Krankheitsbild nicht rasch erkannt und einer entsprechenden notfallmässigen Therapie zugeführt, können bei betroffenen Patienten schwerwiegende Folgeschäden zurückbleiben. Aus diesem Grund wird dem CES international grosse Bedeutung beigemessen und verschiedenste nationale Guidelines zur Behandlung von lumbalen Rückenschmerzen weisen auf die Wichtigkeit des Screenings auf ein CES hin. Ursächlich für ein CES sind in den allermeisten Fällen mechanische (raumfordernde) Prozesse, die zur Kompressionen der Cauda-equina-Fasern führen. Klassischerweise handelt es sich hierbei um eine vollständig sequestrierte lumbale Diskushernie (Massenprolaps).
Ein CES ist ein neurochirurgischer Notfall. Folglich müssen diese Patienten bei klinischem Verdacht umgehend einem Spezialisten oder Zentrumsspital mit entsprechender Notfallversorgung für die weitere Diagnostik und Therapie zugewiesen werden. Es wird vermutet, dass residuelle neurologische Defizite beim CES mit der Zeitdauer bis zur Diagnosestellung und der chirurgischen Dekompression korrelieren. Allerdings herrscht bezüglich des optimalen Zeitpunktes zur operativen Entfernung eines Massenprolapses bei CES ab Symptombeginn Uneinigkeit und wird in der Literatur kontrovers diskutiert.
Bezüglich den zervikalen und lumbalen Wurzelkompressionssyndromen verweisen wir auf unseren vorangehenden Artikel «Teil 1 – Zervikale und lumbale Radikulopathien» im Swiss Medical Forum 25–26/2019.
Pro memoria: Anatomie und Pathophysiologie
Da der Conus medullaris bei Erwachsenen in der Regel auf Höhe des ersten Lendenwirbelkörpers endet, verlaufen die lumbosakralen Nervenwurzeln entsprechend länger durch den Spinalkanal als die zervikothorakalen Nervenwurzeln. Die 9 Nervenwurzelpaare (L2–L5, S1–S5), welche distal vom Conus medullaris im lumbosakralen Wirbelkanal verlaufen, bilden die Cauda equina (lat. Pferdeschweif) (Abb. 1).
Beim CES kommt es zumeist durch einen voluminösen Bandscheibenvorfall (Massenprolaps) zu einer akuten Kompression der Cauda-equina-Fasern innerhalb des Spinalkanals unterhalb des Conus medullaris. Je nach Höhe der Läsion kann der kraniale Anteil der Cauda equina mit den entsprechenden Nervenwurzeln ausgespart und funktionstüchtig bleiben.
Klinische Aspekte
Ursachen eines Cauda-equina-Syndroms
Die Kompression der Cauda-equina-Fasern kann unterschiedliche Ursachen haben (Tab. 1). Die mit Abstand häufigste Ätiologie ist eine zentrale, sequestrierte Diskushernie – meistens auf Höhe LWK4/5 oder LWK5/SWK1. Bei einer lumbalen Diskushernie kommt es durch eine Ruptur des Annulus fibrosus zu einer Herniation des Nucleus pulposus, der durch das hintere Längsband hindurch als freien Sequester in den Spinalkanal austreten kann. Hierbei kommt es zu einem Verdrängen und zur Kompression der Cauda-Fasern (Abb. 2).
Tabelle 1: Ursachen eines Cauda-equina-Syndroms. | |
Degenerativ | Diskushernie |
Spinalkanalstenose | |
Hochgradige Spondylolisthesis | |
Traumatisch | Wirbelkörperfrakturen |
Intraspinale Blutungen (epi-, intradural) | |
Tumorös | Primäre spinale Tumoren (extra-, intradural) |
Metastasen | |
Infektiös/entzündlich | Intraspinales Empyem |
Arachnoiditis | |
Viral, v.a. bei immunkompromitierten Patienten | |
Iatrogen | Postoperative/-interventionelle epi- oder intradurale Blutung |
Spontane Blutung bei Blutverdünnung | |
Andere | Wirbelkörperfrakturen bei Osteoporose |
Spinale Zysten, v.a. Synovialzysten | |
Spinale Ischämie |
Ferner kann auch eine fortgeschrittene, zentrale lumbale Spinalkanalstenose ein CES auslösen. Bei frisch an der LWS operierten Patienten oder auch nach lumbalen Infiltrationen muss immer an eine postoperative bzw. postinterventionelle epidurale Blutung gedacht und mit einem MRI rasch abgeklärt werden, sofern sich eine entsprechende akute Symptomatik präsentiert.
Weitere Auslöser sind traumatisch bedingte, in den Wirbelkanal dislozierte Wirbelkörperfragmente, osteoporotische Wirbelfrakturen, spinale Tumoren und Zysten sowie spontane intraspinale Blutungen und Infektionen. Seltener sind ischämische oder inflammatorische Erkrankungen mehrerer Cauda-Fasern.
Symptomatik und neurologische Befunde
Das CES tritt gehäuft bei Patienten im Alter zwischen 31 und 50 Jahren auf [3]. Es kann akut innerhalb weniger Stunden bei gesunden Patienten ohne vorbestehende lumobovertebrale Beschwerden auftreten oder bildet quasi den Endpunkt bei Patienten mit chronischer Lumbago und/oder rezidivierenden Lumboischialgien. Sämtliche neurologische Qualitäten der lumbosakralen Nervenwurzeln können betroffen sein mit typischerweise bilateralem Ausfall von motorischen, sensorischen und vegetativen Funktionen in unterschiedlichem Ausmass. Die typischen klinischen Zeichen sind eine schlaffe Parese mit Ausfall der Muskeleigenreflexe (Areflexie). Da beim CES die peripheren Nerven (beinhalten das untere Motoneuron) komprimiert werden, fällt der Babinski-Reflex (Pyramidenbahnzeichen) negativ aus. Ferner besteht im klassischen Falle eine Reithosenanästhesie, bedingt durch den Ausfall sämtlicher sensibler Qualitäten in mehreren lumbosakralen Dermatomen. Insbesondere die Untersuchung von Sensibilitätsstörungen im perinealen und perianalen Bereich ist wichtig. Zuletzt bestehen eine Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktionsstörung mit neurogener Überlaufblase und herabgesetztem Analsphinktertonus. Die typischen klinischen Zeichen und Warnsymptome sind nochmals in den Tabellen 2 und 3 aufgeführt. Vereinfacht gesagt sollte man immer dann an ein CES denken, wenn die klassische einseitige Symptomatik eines Bandscheibenvorfalls (ischialgiforme Schmerzen, Hypästhesie, Parästhesie, motorische Defizite) sich auch auf die andere Seite ausbreiten und dann gezielt nach einer perianalen Hypästhesie und einer Überlaufblase suchen. Für andere Ursachen gilt ebenfalls die bilaterale Symptomatik als Verdachtsmoment. Schmerzen können im Spätstadium fehlen («Wurzeltod»).
Tabelle 2: Klassische Symptome beim Cauda-equina-Syndrom. | |
1 | Beidseitige Lumboischialgie |
2 | Perineale/perianale An- oder Hypästhesie (Reithosenanästhesie) |
3 | Blasenfunktionsstörung: neurogene Überlaufblase (schmerzlos) |
4 | Reduzierter oder fehlender Analsphinktertonus, u. U. mit Stuhlinkontinenz |
5 | Sexuelle Dysfunktion (z.B. Sensibilitätsverminderung im Genitalbereich, erektile Dysfunktion) |
Tabelle 3: International publizierte «red flags» zum Cauda-equina-Syndrom (mod.nach [1]). |
(Akute) Blasendysfunktion (Harnverhalt, Überlaufblase) |
Ausstrahlende Schmerzen in beide Beine |
Diffuse sensorische Störungen in den unteren Extremitäten |
Gangstörung |
Lumboischialgie |
Progrediente Parese in den unteren Extremitäten |
Reduzierter Analsphinktertonus |
Reithosenanästhesie / perineale An-/Hypästhesie |
Stuhlinkontinenz |
Wie bereits erwähnt, hängt die Symptomatik beim CES von der Lokalisation der Läsion ab. Man bedenke, dass ein medianer Massenprolaps auf Höhe LWK5/SWK1 nur die Cauda-Fasern unterhalb von L5 oder S1 komprimieren kann. Das heisst, es kann sich klinisch «nur» eine Reithosenanästhesie mit Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen finden, inkomplett auch ohne Lumboischialgie oder Paresen in den Beinen.
Sämtliche klinischen und neurologischen Befunde, insbesondere die perianale Sensibilität und der Analsphinkterstatus sollen sorgfältig erhoben und dokumentiert werden. Hierbei ist vor allem auch der Zeitpunkt des ersten Auftretens von neurologischen Ausfällen entscheidend. So kann der Spezialist seine klinische Untersuchung abgleichen, die Befunddynamik kritisch einschätzen und den Patienten entsprechend triagieren.
Zuletzt sei auch angemerkt, dass sich ein Arzt durch einen unvollständig erhobenen und ungenügend dokumentierten Neurostatus bei bestätigtem oder später festgestellten CES Verdacht unter Umständen bei einem allfälligen folgenden Rechtsstreit potentiell medicolegal angreifbar machen kann.
Management des Cauda-equina-Syndroms
Radiologische Diagnostik
Wird durch einen Arzt oder auch durch eine andere medizinisch qualifizierte Person, z.B. durch einen Physiotherapeuten, der Verdacht auf ein CES erhoben, gilt es, den Patienten noch gleichentags notfallmässig abzuklären. Das diagnostische Mittel der Wahl ist die Kernspintomographie (MRI) der lumbosakralen Wirbelsäule mit der Fragestellung nach Neurokompression im Bereich der Cauda equina (Abb. 3). Ist innert nützlicher Frist kein MRI verfügbar, dient alternativ auch eine Computertomographie (CT) oder CT-Myelographie. Das häufigste radiologische Korrelat hierbei ist, wie oben erwähnt, ein voluminöser, den Spinalkanal ausfüllenden Bandscheibensequester mit entsprechender Verdrängung. Besteht radiologisch der Verdacht auf ein tumoröses oder infektiöses Geschehen, sollte abschliessend eine Sequenz mit Kontrastmittelapplikation durchgeführt werden.
Abklärung einer neurogenen Blasenfunktionsstörung
Nach Möglichkeit soll eine Blasenfunktionsstörung quantifiziert werden. Hierzu fordert man den Patienten dazu auf, die Blase zu entleeren, wobei dies bei stark schmerzgeplagten Patienten häufig nicht möglich ist. Hiernach soll der Restharn in der Blase mittels Ultraschall oder noch genauer, durch einen Blasenkatheter bestimmt werden. Im Sinne einer raschen Abklärung ist der Blasenkatheter der sonographischen Bestimmung durch einen Radiologen vorzuziehen, insbesondere, da Patienten mit einer neurogenen Überlaufblase zunächst sowieso auf einen Dauerkatheter angewiesen sind. Bei Erwachsenen ist ein Restharn von mehr als 100 Millilitern als pathologisch zu werten, wobei in der Literatur auch höhere Werte angegeben werden.
Therapie
Wird das CES klinisch-radiologisch bestätigt, liegt ein neurochirurgischer Notfall vor, sofern die neurologischen Symptome akut innerhalb der letzten 24 bis 48 Stunden aufgetreten sind. Die Operation hat zum Ziel, die Cauda-equina-Fasern möglichst schonend und rasch zu dekomprimieren. Bei einer Diskushernie wird dies mit einer mikrochirurgischen Sequesterektomie erzielt. Bei Tumoren oder Traumafolgen muss unter Umständen eine Laminektomie mit oder ohne Instrumentierung zur Stabilisation der betroffenen Segmente erfolgen. Ein intraspinales Empyem oder ein spinales Hämatom wird über einen entsprechenden Zugang ausgeräumt.
Diskussion
Definition des Cauda-equina-Syndroms
Bis vor kurzem war das CES nicht einheitlich definiert, und bis zu 17 unterschiedliche Definitionen wurden beschrieben [4]. Zudem wurde die Blasen- und Mastdarmdysfunktion unterschiedlich in die Beschreibung des CES mit einbezogen. Mittlerweile herrscht mehr Konsens und fünf charakteristische Eigenschaften des CES werden regelmässig festgehalten [5]. Diese sind in Tabelle 2 aufgeführt. Diese Definition soll als Standard dem Kliniker bei einem systematischen Erfassen der klinisch-neurologischen Befunde bei Patienten mit Verdacht auf ein CES helfen. Grundsätzlich soll bei jedem Patienten mit akuter Lumbago und/oder Lumboischialgie, Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen und begleitender perinealer An-/Hypästhesie an ein CES gedacht werden.
Je nach Literatur wird das CES auch in zwei oder vier Stadien eingeteilt, die durch den progredienten Verlust der Cauda-equina-Funktion, insbesondere der Blasenfunktion definiert werden (Tab. 4) [5, 6]. Hierbei wird vor allem das CES mit oder ohne Harnverhalt (eng. «urinary retention») differenziert. Entsprechend wird ein inkomplettes CES ohne Harnverhalt mit CESI, und ein CES mit Harnverhalt mit CESR bezeichnet.
Tabelle 4: Einteilungsstadien beim Cauda-equina-Syndrom. | |
CESS («Suspected») | Bilaterale radikuläre Beinschmerzen |
CESI («Incomplete») | Blasenentleerungsstörungen, aber ohne Harnverhalt |
CESR («Retention») | Schmerzloser Harnverhalt (neurogene Retentionsblase) |
CESC («Complete») | Vollständiger Verlust der Cauda-equina-Funktionen |
Chirurgie: Wie schnell soll operiert werden?
Die Evidenz in der Literatur bezüglich des Timings der chirurgischen Versorgung beim CES ist schlecht und wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Einige Studien konnten eine signifikant bessere Erholung von Blasen-/Mastdarmfunktion sowie motorischen und sensorischen Defiziten nachweisen, wenn innerhalb von 48 Stunden ab Symptombeginn operiert wird. Wiederum andere Arbeiten fanden keine statistisch signifikante Verbesserung der neurologischen Funktion bei frühzeitiger Operation. Die aktuelle Studienlage beschränkt sich jedoch auf Analysen retrospektiver Fallserien oder Metaanalysen hiervon (Klasse-IV-Evidenz) [7, 8]. Aufgrund dessen geben die 2012 publizierten klinischen Guidelines der Nordamerikanischen Wirbelsäulengesellschaft (NASS) bei insuffizienter Evidenz keine Empfehlung für den Zeitpunkt der Operation bei einem CES ab. Letztendlich befürwortet dennoch die überwiegende Mehrheit der Autoren und Neurochirurgen eine notfallmässige Operation beim CES zum frühestmöglichen Zeitpunkt, was sich auch mit der Meinung und Praxis der Autoren dieses Artikels deckt.
Doch der alleinige Wille des Chirurgen samt den logistischen und personellen Voraussetzungen zur raschen Operation alleine reicht oft nicht aus, um die Voraussetzungen zur bestmöglichen Prognose zu schaffen. Denn man bedenke, dass in Realität nicht wenige Patienten erst Tage nach Symptombeginn einen Arzt aufsuchen. Hierfür mag es unterschiedliche Gründe geben. Sicherlich ist vielen Patienten die Tragweite dieser Beschwerden nicht bewusst, sie werden heruntergespielt oder man wartet zunächst ab, ob sich die Symptome spontan bessern. Auch in diesen Situationen wird bei klaren radiologischen und klinischen Befunden eine möglichst rasche operative Dekompression empfohlen.
Prognose
Die Angaben zur postoperativen Prognose beim CES in der Literatur sind sehr heterogen. Jüngste Daten aus retrospektiven Fallserien zeichnen jedoch ein eher düsteres Bild. In einer kürzlich publizierten niederländischen Arbeit hatten von 75 Patienten mit CES nach 9 Wochen noch 48% aller Patienten Blasen-, 42% Mastdarm- und 53% Sexualfunktionsstörungen, 48% klagten über persistierende Lumboischialgien und 57% über Reithosendysästhesien [9]. Gemäss den Autoren betrug die durchschnittliche Dauer ab Symptombeginn bis zur Operation jedoch 84 Stunden. Auch das längerfristige Erholungspotential der genannten Funktionen ist bescheiden. Dieselbe Arbeitsgruppe analysierte in einer weiteren aktuellen Studie die Langzeitprognose mit einem Follow-up von knapp 14 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt hatten noch 38% der Patienten Miktions-, 43% Defäkations- und 54% Sexualfunktionsstörungen [10]. In einer aktuellen prospektiven Beobachtungsstudie fand sich keine Korrelation zwischen der Dauer der präoperativen neurogenen Blasenfunktionsstörung (median 72 Stunden), der Grösse des Diskussequesters und der postoperativen Persistenz der Blasenfunktionsstörung. Auch der Zeitpunkt der Chirurgie (<48 Stunden vs. >48 Stunden) hatte diesbezüglich keinen statistisch signifikanten Einfluss [11]. Dennoch plädieren die Autoren auch hier für eine Dekompression beim CES zum frühestmöglichen Zeitpunkt. In einer weiteren retrospektiven Beobachtungsstudie von 136 operierten Patienten mit CES konnte kein statistischer Vorteil für eine frühzeitige Operation (<24 Stunden) in Bezug auf Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen aufgezeigt werden [12].
Guidelines
Wie eingangs erwähnt, sind mehr als 90% der lumbalen Rückenschmerzen unspezifisch und lediglich eine verbleibende Minderheit von Patienten leiden unter spezifischen, zugrundeliegenden Pathologien als Ursache von Lumbalgien. Nebst den meist chronischen degenerativen Pathologien werden schwerwiegende und abklärungsbedürftige Erkrankungen in vier Kategorien eingeteilt: Tumoren, Frakturen, CES und Infektionen. Um diesen Patienten gerecht zu werden und um folgenschwere Diagnosen nicht zu verpassen, werden Guidelines bzw. Leitlinien und sogenannte «red flags»publiziert, an die sich der Kliniker beim Screening von Patienten orientieren soll. Dabei wird angenommen, dass das Vorhandensein von «red flags» mit einem höheren Risiko für ernstzunehmende Pathologien als Korrelat für Lumbalgien assoziiert ist.
Allerdings variieren viele Leitlinien bezüglich der Definition der «red flags», und die Liste der «red flags», nach denen gescreent werden soll, ist je nach Leitlinie unterschiedlich lang. Eine kürzlich publizierte Arbeit analysierte 16 verschiedene Guidelines für Ärzte in der Praxis für das Management von Patienten mit lumbalen Rückenschmerzen aus unterschiedlichen Ländern [1]. Total wurden 46 «red flags» identifiziert, neun davon wurden spezifisch für das Screenen eines CES genannt (Tab. 3). Die Autoren kritisieren das Fehlen eines Konsensus unter den existierenden Guidelines sowie die mangelnde Evidenz zu den empfohlenen «red flags». Zudem haben «red flags» eine sehr geringe Spezifität, das heisst die Verdachtsdiagnose wird sich meist nicht bewahrheiten. Diese negative Ausbeute potenziert sich nochmal aufgrund der sehr geringen Prävalenz eines CES in der Bevölkerung (niedriger positiver prädiktiver Wert). Nichtsdestotrotz sind Leitlinien in der Praxis durchaus nützlich und dienen dem systematischen Erheben der Anamnese und des neurologischen Status.
Ausblick
Bei Wirbelsäulenpatienten ist eine enge, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Austausch unter anderem zwischen Hausärzten, Physiotherapeuten und Spezialisten eine wichtige Voraussetzung für ein rasches Erfassen und Abklären von Patienten mit Verdacht auf ein CES.
Obwohl das CES eher bei jüngeren Patienten auftritt, muss auch der zunehmenden Alterung der Bevölkerung Beachtung geschenkt werden. Denn die Prävalenz von degenerativen, tumorösen, aber auch traumatischen Wirbelsäulenerkrankungen in der geriatrischen Bevölkerung nimmt zu. Die Anamnese und muskuloskelettale-neurologische Untersuchung dieser Patienten mit entsprechender Dokumentation in der Praxis wird somit an Bedeutung gewinnen. Diese Patientenpopulation sollte standardmässig über die Symptome und Konsequenzen eines CES aufgeklärt werden, um die Morbidität dieser Erkrankung möglichst einzudämmen.
Das Wichtigste für die Praxis
• Das CES ist sehr selten, ist aber ein neurochirurgischer Notfall. Eine verzögerte Diagnosestellung und Therapie begünstigt bleibende und gravierende neurologische Ausfälle.
• Die wichtigsten Merkmale sind das bilaterale Auftreten der Symptome, die sonst beim Bandscheibenvorfall nur einseitig sind, die Blasen-, Mastdarm-, Sexualfunktionsstörungen mit begleitender Reithosenanästhesie, nach der auch gesucht werden muss. Andere motorische und sensible Defizite können variieren.
• Bei Verdacht auf CES sollen diese Patienten notfallmässig an ein entsprechendes Zentrum zur raschen Abklärung und gegebenenfalls chirurgischen Dekompression zugewiesen werden.
• Knapp die Hälfte aller operierten Patienten kann auch nach Jahren noch unter Funktionsstörungen der sakralen Nervenwurzeln leiden. Eine möglichst frühzeitige Operation scheint mit einer besseren Prognose und weniger bleibenden neurologischen Defiziten einherzugehen.
• Alle Patienten mit bekannten lumbalen Bandscheibenvorfällen sollen über die Warnsymptome eines CES aufgeklärt und sensibilisiert werden, denn eine rasche Vorstellung beim Arzt ist entscheidend, um Verzögerungen in der Diagnosestellung zu vermeiden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Ralph T. Schär
Universitätsklinik
für Neurochirurgie
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