Bewegung gegen Depression und Angst
Wie wir das Potenzial des ­körperlichen Trainings besser ­nutzen können

Bewegung gegen Depression und Angst

Übersichtsartikel
Ausgabe
2021/0910
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08672
Swiss Med Forum. 2021;21(0910):154-156

Affiliations
a Departement Gesundheit, OST – Ostschweizer Fachhochschule, St. Gallen; b Institut für Therapie und Rehabilitation, Kantonsspital Winterthur, Winterthur; Research Group for Adapted Physical Activity and Psychomotor Rehabilitation, Department of Rehabilitation Sciences, KU Leuven, Löwen, Belgien; d Departement Gesundheit, Berner Fachhochschule, Bern; e Inselspital, Universitätspital Bern, Bern; f PhD Program in Rehabilitation Sciences, Massachusetts General Hospital Institute for Health Professionals, Charlestown, Boston, USA; g Recovery & Sozialpolitik, Pro Mente Sana, Zürich; h Kompetenzbereich Psychosomatische Medizin, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern; i Forensisch-Psychiatrischer Dienst, Medizinische Fakultät, Universität Bern

Publiziert am 02.03.2021

Die körperliche Trainingstherapie stellt neben Psycho- und Pharmakotherapie eine wirksame Behandlungsoption bei psychischen Erkrankungen dar. Dieses Potenzial bleibt jedoch zu oft unerkannt.

Einführung

Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen stellt in der Schweiz eine wachsende Herausforderung dar. Dadurch besteht in der Grundversorgung eine grosse Nachfrage nach wirksamen Präventions- und Behandlungsmassnahmen. Vielversprechende therapeutische Massnahmen mit ungenutztem Potenzial sind Bewegung und körperliches Training. Der Wirk­effekt des körperlichen Trainings bei der Prävention und Behandlung der häufigsten psychischen Erkrankungen ist bereits gut belegt [1]. Dennoch scheint dieses Potenzial im Kontext psychischer Gesundheit noch wenig bekannt zu sein. Für die ärztliche Grundversorgung ist es wichtig zu wissen, dass die körperliche Trainingstherapie neben Psycho- und Pharmakotherapie eine wirksame Behandlungsoption darstellt.

Präventive und therapeutische Effekte der Bewegung

Menschen mit passivem Lebensstil haben ein erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken. Der präventive Effekt körperlicher Aktivität ist bei Depression besonders stark. Wer die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für ein gesundes Aktivitätslevel erfüllt (150 Minuten moderate Aktivität pro Woche), hat im Vergleich zu Personen mit tiefem Aktivitätslevel ein um 22% reduziertes relatives Risiko, eine Depression zu entwickeln («adjusted odds ratio» [AOR] = 0,78, 95% «confidence interval» [CI] = 0,62, 0,99, p = 0,038) [2]. Das Risiko, eine Angststörung zu entwickeln, sinkt um 28% (AOR = 0,72, 95% CI = 0,54, 0,95, p = 0,02) [3]. Zudem hat körperliches Training bei Menschen mit Symptomen einen wichtigen antidepressiven Effekt («standardized mean difference» [SMD] = 1,11, 95% CI = 0,79, 1,43, p <0,001; grosser Effekt) [4]. Auch eine moderate anxiolytische Wirkung ist belegt (SMD = -0,58, 95% CI = -1,09, -0,08, p = 0,024; moderater Effekt) [5].

Wirkungsmechanismen des körperlichen Trainings auf die psychische Gesundheit

Zu den Wirkungsmechanismen des körperlichen Trainings auf die psychische Gesundheit gibt es unterschiedliche Hypothesen [1]. Die psychosoziale Hypothese basiert primär auf der Annahme, dass Aktivität die soziale Interaktion stärkt und Training zur Ablenkung dient. Gemäss der Verhaltenshypothese bewirkt Training eine verbesserte Selbstwirksamkeit und steigert das Gefühl der Unabhängigkeit. Zudem ist ­bekannt, dass sich Bewegung bei psychisch erkrankten Menschen positiv auf die Schlafqualität auswirkt. Am meisten Aufmerksamkeit haben in jüngster Zeit neurobiologische Hypothesen erhalten. Dabei stehen die antiinflammatorische Wirkung des körperlichen Trainings, die verstärkte Neuroplastizität und die Neurogenese im Vordergrund. Beispielsweise zeigte sich, dass Patientinnen und Patienten mit schwerer Depression im Vergleich zu symptomfreien Menschen erhöhte proinflammatorische Zytokine aufweisen. Diese neuromodulatorischen Substanzen gehen mit Antriebslosigkeit und Fatigue einher. Eine Untersuchung zum körperlichen Training für Patientinnen und Patienten mit schwerer Depression zeigte eine positive Korrelation zwischen der Veränderung des proinflammatorischen Interleukins 1β und Veränderung von Depressionssymptomen [6]. Ein weiterer neurobiologischer Mechanismus von Interesse steht im Zusammenhang mit der Produktion des «brain-derived neurotrophic factor» (BDNF). BDNF ist ein Neurotrophin, das entscheidende Funktionen des zentralen Nervensystems wie zum Beispiel die Entwicklung und Aufrechterhaltung synaptischer Verbindungen zwischen Neuronen reguliert. Bei sym­ptomfreien Männern wurde gezeigt, dass intensives Ausdauertraining zu einer Erhöhung der BDNF-Konzentration führt [7]. Dieser Zusammenhang zwischen Bewegung und BDNF-Produktion könnte teilweise auch bei Patientinnen und Patienten mit Depressionen oder Angststörungen den positiven Effekt des Trainings auf die psychische Gesundheit erklären.

Erfassung des Aktivitätslevels in der Arztpraxis

Wie sich in den USA zeigte, werden nur ein Drittel der Patientinnen und Patienten beim Arztbesuch dazu ermuntert, sich zu bewegen [1]. In der Schweiz verhält es sich vermutlich ähnlich. Jedoch wäre es dringend notwendig, bei der Behandlung von psychisch Erkrankten die körperliche Aktivität stärker zu fokussieren. Für die Grundversorgung ist es in diesem Kontext eine grosse Chance, Bewegung als Therapie zu verstehen und anzuordnen. Ein erster diagnostischer Schritt in diese Richtung kann darin bestehen, das Aktivitäts­level als «Vitalparameter» systematisch zu erfassen. Dies kann anhand von zwei Fragen erfolgen (Tab. 1). Sie dienen zur Indikationsabklärung und als Verlaufskontrolle. Patientinnen und Patienten, die das empfohlene Aktivitätslevel (150 Minuten pro Woche) nicht erreichen, sollten an eine Fachperson (z.B. aus dem Bereich Sporttherapeutie oder Physiotherapie) überwiesen werden.
Tabelle 1: Zwei Fragen zur Erfassung der körperlichen Aktivität bei Patientinnen/Patienten mit psychischen Erkrankungen als Vitalparameter in der klinischen Praxis.
1. An wie vielen Tagen pro Woche führen Sie, im Durchschnitt, ­mässig bis intensive körperliche Aktivitäten durch (z.B. einen ­schnellenSpaziergang)?__Tage
2. Für wie viele Minuten führen Sie, im Durchschnitt, diese ­körperlichenAktivitäten mit dieser Intensität durch?__Minuten
Total physische Aktivität in Minuten (Min.) pro Woche (#1 ×#2)__Min. pro Woche

Motivation für körperliches Training

Im klinischen Alltag zeigen sich vielschichtige Herausforderungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen für körperliches Training zu motivieren. Als häufigste Barrieren nennen die Patientinnen und Patienten negative Stimmung, psychischen Stress und fehlende Unterstützung [1]. Diese möglichen Herausforderungen gilt es in der klinischen Arbeit zu berücksichtigen und direkt anzugehen.
Untersuchungen in der ambulanten Praxis ergaben, dass psychisch erkrankte Menschen zunächst mehrheitlich eine fremdbestimmte (externe) Motivation gegenüber körperlichem Training haben [1]. Demnach basiert ihre Motivation primär auf dem Bestreben, externe Erwartungen zu erfüllen. Psychisch Erkrankte sind meist auf Unterstützung angewiesen, um körperliches Training zu beginnen. Barrieren, die dem Training entgegenstehen, gilt es in der Therapie gemeinsam mit der Patientin / dem Patienten zu identifizieren. Individuelle Lösungen können dazu beitragen, Herausforderungen zu überwinden. Im Prozess zur Förderung von Verhaltensänderungen sind motivations­psychologische Prozesse zu berücksichtigen (z.B. Transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung) [1]. Aus motivationspsychologischer Sicht ist zudem zu beachten, dass noch weitere Mechanismen zur Steigerung der physischen Aktivität genutzt werden wie beispielsweise der positive Effekt von partizipativ-spielerischen Settings bei Gruppenangeboten.­

Individuelle Ziele

Für nachhaltige Therapieeffekte ist die Entwicklung individueller Ziele bedeutsam. Allerdings zeigt sich im Alltag, dass es Patientinnen und Patienten häufig Mühe bereitet, eigenständige Ziele zu formulieren. Es ist hilfreich, sich Zeit zu nehmen, um mögliche Motive für eine Verhaltensänderung gemeinsam mit ihnen zu erkunden. Die Kunst besteht darin, Gesprächssituationen so zu gestalten, dass Ziele, Werte und Bedürfnisse der Erkrankten angesprochen werden. Dabei sollte ­ihnen der Zusammenhang zwischen ihren Motiven und den Trainingszielen bewusst(er) werden.

Körperliches Training und Adhärenz

Die Einhaltung vereinbarter Trainingsinterventionen (Adhärenz) variiert beträchtlich. Rund ein Drittel aller ­Patientinnen und Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen führt das körperliche Training zunächst nicht wie vereinbart durch [1]. Es besteht zweifellos ­Bedarf, die Adhärenz durch wiederholtes Motivieren zu steigern, um positiven Effekte nachhaltig zu sichern. Digitale Technologien (E-Health) könnten in diesem ­Bereich neue Möglichkeiten eröffnen. Über 80% der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen geben an, ein Smartphone zu nutzen. Mehr als die Hälfte möchten nach eigenen Angaben mehr Informationen über gesundheitsfördernde Massnahmen erhalten. Somit könnte E-Health psychisch Erkrankte beim Durchführen von Trainingsinterventionen unterstützten. Zukünftig könnten beispielsweise Apps entwickelt werden, dies es Patientinnen und Patienten erlauben, sich bei Fragen oder Ängsten per Chat-Funktionen an eine Expertin oder einen Experten zu wenden, ohne dafür den Weg in eine Klinik oder Praxis auf sich zu nehmen. Ein weiterer vielversprechender ­Ansatz ist das Konzept «recovery by peers». «Peers» sind beispielsweise ehemalige Patientinnen/Patienten oder Menschen mit entsprechender Krisenerfahrung, die Betroffene in unterschiedlichen Bereichen unterstützen. Das grosse Potential von «peers» lässt sich ­zukünftig auch für körperliches Training nutzen.

Förderung von Bewegung als ­Therapieoption

Ein Umdenken ist gefordert, um Bewegung als anerkannte Therapieoption für psychisch erkrankte Menschen zu etablieren. Eine internationale interprofessionelle Expertengruppe veröffentlichte hierzu Empfehlungen [8]. Sie sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Tabelle 2: Schlüsselfaktoren, die den Zugang zu Bewegungsprogrammen für Menschen mit psychischen Erkrankungen verbessern [8].
FaktorenVeränderungen
KulturWandel zu holistischen Ansätzen, um körperlichem Training die ­nötige Priorität in der inte­grierten Versorgung bei psychischen und körperlichen Erkrankungen beizumessen
Wechsel von der klassischen Symptombehandlung zu präventiven Massnahmen (inkl.körperlichenTrainings)
Aufklärung der Öffentlichkeit, um Stigmata und Vorurteile gegenüber Patientinnen//Pa­tienten zu reduzieren
InfrastrukturNiederschwelliger Zugang zur Trainingsinfrastruktur
Kooperationen zwischen Grundversorgern, Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen und Nichtregierungsorganisationen zur ­Förderung der körperlichen Aktivität
Versicherungsmodelle, die eine Vergütung des körperlichen ­Trainings als Therapie für Patientinnen/Patienten mit psychischen Erkrankungen ermöglichen
BildungVerbesserte Lehre in der Grundausbildung aller Gesundheitsfachpersonen in Bezug auf Zusammenhänge zwischen Aktivität, körper­lichem Training und psychischer Gesundheit
Interdisziplinäre Weiterbildungen zu den Themen «Aktivität» und «körperliches Training»
Evidenzbasierte Weiterbildungen für Berufsgruppen, die körperliches Training durchführen (z.B. Physiotherapie, Sporttherapieusw.)

Das Wichtigste für die Praxis

• Körperliches Training ist eine evidenzbasierte Therapie, um Depressionen und Angststörungen zu behandeln.
• Trainingsinterventionen sollten integraler Bestandteil einer multimodalen Behandlung bei Depressionen und Angststörungen sein.
• Zukünftig gilt es, für Betroffene den Zugang zu Bewegung und körperlichem Training zu vereinfachen.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. phil. Emanuel Brunner
Physiotherapeut, PhD
OST – Ostschweizer ­Fachhochschule
Departement Gesundheit
Rosenbergstrasse 59
CH-9000 St.Gallen
emanuel.brunner[at]ost.ch
1 Stubbs B, Rosenbaum S. Exercise-Based Interventions for Mental Illness: Physical Activity as Part of Clinical Treatment. London: Elsevier Ltd; 2018.
2 Schuch FB, Vancampfort D, Firth J, Rosenbaum S, Ward PB, Silva ES, et al. Physical Activity and Incident Depression: A Meta-Analysis of Prospective Cohort Studies. Am J Psychiatry. 2018;175:631–48.
3 Schuch FB, Stubbs B, Meyer J, Heissel A, Zech P, Vancampfort D, et al. Physical activity protects from incident anxiety: A meta-analysis of prospective cohort studies. Depress Anxiety. 2019;36(9):846–58.
4 Schuch FB, Vancampfort D, Richards J, Rosenbaum S, Ward PB, Stubbs B. Exercise as a treatment for depression: A meta-analysis adjusting for publication bias. J Psychiatr Res. 2016;77:42–51.
5 Stubbs B, Vancampfort D, Rosenbaum S, Firth J, Cosco T, Veronese N, et al. An examination of the anxiolytic effects of exercise for people with anxiety and stress-related disorders: A meta-analysis. Psychiatry Res. 2017:102–8.
6 Rethorst CD, Toups MS, Greer TL, Nakonezny PA, Carmody TJ, Grannemann BD, et al. Pro-inflammatory cytokines as predictors of antidepressant effects of exercise in major depressive disorder. Mol Psychiatry. 2013;18:1119–24.
7 Saucedo Marquez CM, Vanaudenaerde B, Troosters T, Wenderoth N. High-intensity interval training evokes larger serum BDNF levels compared with intense continuous exercise. J Appl Physiol. 2015;119:1363–73.
8 Rosenbaum S, Hobson-Powell A, Davison K, Stanton R, Craft L, Duncan M, et al. The Role of Sport, Exercise, and Physical Activity in Closing the Life Expectancy Gap for People With Mental Illness: An International Consensus Statement by Exercise and Sports Science Australia, American College of Sports Medicine, British Association of Sport and Exercise Science, and Sport and Exercise Science New Zealand. Translational Journal of the ACSM. 2018;3(10).