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Kongenitalen Gefässmalformationen liegt eine embryonale Fehlentwicklung zugrunde, die mehrheitlich auf somatische Mosaikmutationen im RAS/MAPK/ERK-Signalweg («proliferative pathway») oder PI3K/AKT/mTOR-Signalweg («anti-apoptosis pathway»), die uns medizinisch auch aus der Onkogenese von Malignomen bekannt sind, zurückzuführen ist (Abb. 1) [1].
Die Klassifikation der vaskulären Malformationen erfolgt nach den Kriterien «Gefässtyp», «hämodynamische Wirksamkeit» («high flow» versus «low flow») und «embryologischer Entwicklungsgrad» sowie seit 2018 zusätzlich nach dem Kriterium «Vorliegen genetischer Varianten» (Klassifikation der Internationalen Gesellschaft zur Untersuchung vaskulärer Anomalien [ISSVA]; Tab. 1 [2]). Grundsätzlich gehören extra- und intrakranielle arteriovenöse Malformationen (AVM) zu den seltenen Erkrankungen (<1/2000 Einwohnern).
Tabelle 1: Einteilung der kongenitalen vaskulären Malformationen der Internationalen Gesellschaft zur Untersuchung vaskulärer Anomalien (ISSVA) [2]. |
Simple vaskuläre Malformationen |
Ein Gefässtyp ist isoliert betroffen: arterielle Malformation (AM), venöse Malformation (VM), lymphatische Malformation (LM), kapilläre Malformation (CM) inklusive arterio-venöse Malformationen (AVM). |
Kombinierte vaskuläre Malformationen |
Zwei oder mehr Gefässtypen sind betroffen: diverse Kombinationen, z.B. kapillär-venöse Malformation (CVM), kapillär-venös-lymphatische Malformation (CVLM). |
Trunkale Malformationen embryologisch ausgereifter, medizinisch benennbarer Gefässe |
Trunkal leitet sich aus dem Wort «Truncus» ab und wird für grössere, embryologisch ausgereifte Blut- oder Lymphgefässe verwendet. Zu den trunkalen vaskulären Malformationen gehören Aplasien, Hypoplasien, Ektasien und nicht degenerative, nicht entzündliche Aneurysmata. |
Vaskuläre Malformationen in Assoziation mit anderen Anomalien |
Verschiedene kongenitale vaskuläre Malformationen sind mit Anomalien von Knochen, Viszeralorganen und Weichteilen assoziiert (meist vermehrtes Grössenwachstum, selten Minderwachstum) und werden syndromal oft mit dem Eponym ihrer Entdecker bezeichnet. Die häufigsten vaskulären Malformationssyndrome sind: Klippel-Trénaunay-Syndrom (CM + VM +/− LM + vermehrtes Extremitätenwachstum) oder Parkes-Weber-Syndrom (CM + VM +/− LM + AVM + vermehrtes Extremitätenwachstum). |
Nicht klassifizierte, kongenitale vaskuläre Malformationen |
Die peripheren AVM werden nach klinischem Schweregrad (Schobinger-Klassifikation, Tab. 2) und angiographischem Erscheinungsbild (Typ I–IV, Abb. 2) eingeteilt [3, 4].
Tabelle 2: Klinische Symptomatologie der peripheren kongenitalen arteriovenösen Malformationen (Schobinger-Klassifikation) [3, 4]. | |
Stadium | Klinisches Erscheinungsbild |
I Ruhephase («schlafend») | – Vaskulärer Hautfleck und Überwärmung möglich – AV-Shunts in Doppler-Ultraschall-Untersuchung erkennbar – AVM vorhanden, verursacht jedoch keine klinischen Symptome |
II Evolutionäre Phase (Zunahme) | Stadium I plus: – Vergrösserung – Pulsationen und palpables Schwirren – hörbares Maschinengeräusch – arterialisierte elongierte/tortuöse Drainagevenen |
III Destruktive Phase | Stadium II plus: – dystrophische Hautveränderungen, nicht heilende Hautulzerationen (Steal-Syndrom) – Blutungen aus ulzerierten Bereichen der Haut oder Schleimhäuten – Gewebenekrosen und lytische Knochenläsionen möglich |
IV Dekompensierte Phase | Stadium III plus: – Herzinsuffizienz mit erhöhtem Herzzeitvolumen – abnormal verringerter peripherer Gefässwiderstand (PVR) – venöse Hypertonie mit sekundären Hautveränderungen (Ulcus cruris) |
Bei der Fallbeschreibung in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum handelt es sich um eine simple, isolierte AVM des linken Daumens (gemäss Klassifikation der ISSVA) im klinischen Stadium II (nach Schobinger) mit pathognomonischem klinischem Bild und Verlauf [5]. Die meisten AVM haben anatomische, pathophysiologische und hämodynamische Konsequenzen, die bei fehlender Behandlung im jungen Erwachsenenalter zu einer Beeinträchtigung verschiedener Organsysteme führen können. Bei progredientem Verlauf sollte daher zeitnah ein individueller, interdisziplinärer Behandlungsplan erstellt werden. Mehrheitlich werden minimalinvasive interventionelle Behandlungsmethoden eingesetzt sowie ein mehrzeitiges Vorgehen zur Minimierung von Komplikationen empfohlen. Therapie der Wahl ist die direkt perkutane oder retrograd transvenöse Embolisation mittels Katheter, wobei die Behandlung aufgrund der hohen Komplikationsrate mit Nekrosen und Neuropathien anspruchsvoll ist und sich die Technik nach dem angiographischen Erscheinungsbild richtet [6]. Absoluter, 96%iger Alkohol, in Verbindung mit einem Coiling des «Nidus», ist als die effektivste Technik etabliert. Entscheidend für den Therapieerfolg ist die Ausschaltung des Nidus, der den Ort der Kurzschlussverbindung zwischen der Arterie und der oft aneurysmatisch erweiterten Drainagevene darstellt [7]. Die Angiographie der Patientin im Fallbericht der vorliegenden Ausgabe zeigt den typischen Befund einer AVM Typ IIIB mit multiplen zuführenden Arterien und drainierenden Venen sowie einem Nidus, der als aneurysmatische Aufweitung der Drainagevene in der Übergangszone erkennbar ist. Bei guter Zugänglichkeit einer isolierten AVM ist die chirurgische Behandlung mit den gleichen Standards des mehrzeitigen Vorgehens und der kompletten Entfernung des Nidus der Embolisation vergleichbar und bietet sich, wie im beschriebenen Fall, bei anatomisch heiklen Strukturen wie denen der Hand an [8, 9].
Kombinierte AVM und AVM in Assoziation mit anderen Anomalien, wie beispielsweise das Parkes-Weber-Syndrom, sind sowohl mit Kathetertechnik als auch chirurgisch herausfordernd und nur eingeschränkt therapierbar. Die Patientinnen und Patienten haben oftmals einen schweren Verlauf und sind durch die Auswirkungen der Dekompensation gefährdet. Der Nachweis genetischer Varianten eröffnet zukünftig allerdings Möglichkeiten der medikamentösen Behandlung mit Einsatz von Medikamenten, die bei anderen Erkrankungen, beispielsweise in der Onkologie, bereits eingesetzt werden [10, 11]. In Abgrenzung zur klassischen Chemotherapie mit Zytostatika nutzen die neuartigen Arzneistoffe, wie die «small molecules» (Namensendung «-mib» oder «-nib»), bestimmte biologische und zytologische Eigenarten der genetischen Krebszellvarianten aus. Da diese Merkmale auf gesunden Zellen meist kaum oder gar nicht vorkommen, ist die gezielte Therapie («targeted therapy») verträglicher und wirksam. Randomisierte Studien zum Einsatz dieser Substanzen bei verschiedenen kongenitalen Gefässmalformationen laufen bereits. Im Rahmen eines SINERGIA-Forschungsprojekts werden auch in der Schweiz systematische Untersuchungen der genetischen Varianten im Gewebe durchgeführt und die Ergebnisse mit den Europäischen Referenz-Netzwerken für seltene Gefässerkrankungen ausgetauscht, um Behandlungskonzepte mit ausreichend grosser Fallzahl prüfen zu können.
Forschungsunterstützung im Rahmen des SINERGIA-Projektes des Schweizerischen Nationalfonds (CRSII5_193694, «Disease-targeted next-generation sequencing panel [VASCSequ] for detection of somatic-mosaic mutations in congenital vascular malformations to enable further advances in personalized therapeutic decision making»).
Kopfbild: © Raquel Camacho Gómez | Dreamstime.com;
Prof. Dr. med.
Iris Baumgartner
Klinikdirektorin, Universitätsklinik für Angiologie
Medizinbereich Herz/Gefäss, Insel Gruppe Bern
Freiburgerstrasse 18
CH-3010 Bern
iris.baumgartner[at]insel.ch
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