Kongenitale arteriovenöse Malformationen
Behandlungsplan: zeitnah, individuell und interdisziplinär

Kongenitale arteriovenöse Malformationen

Editorial
Ausgabe
2021/4950
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08781
Swiss Med Forum. 2021;21(4950):840-842

Affiliations
Universitätsklinik für Angiologie, Inselspital, Universitätsspital Bern, Bern

Publiziert am 07.12.2021

Kongenitalen Gefässmalformationen liegt eine embryonale Fehlentwicklung zugrunde, die mehrheitlich auf somatische Mosaikmutationen im RAS/MAPK/ERK-Signalweg («proliferative pathway») oder PI3K/AKT/mTOR-Signalweg («anti-apoptosis pathway»), die uns medizinisch auch aus der Onkogenese von Malignomen bekannt sind, zurückzuführen ist (Abb. 1) [1].
Abbildung 1: Signalwege und gezielte Möglichkeiten zur medikamentösen Therapie bei angeborenen arteriovenösen Malformationen (modifiziert nach [1]).
AVM: arteriovenöse Malformation; CM-AVM: kapilläre Malformation – arteriovenöse Malformation; GDP: Guanosindiphosphat; GTP: Guanosintriphosphat; RAS/MAPK/ERK: «rat sarcoma/ mitogen activated protein kinase/ extracellular signal-regulated kinase»; VEGF: «vascular endothelial growth factor»; VEGFR2: «vascular endothelial growth factor receptor 2».
Die Klassifikation der vaskulären Malformationen erfolgt nach den Kriterien «Gefässtyp», «hämodynamische Wirksamkeit» («high flow» versus «low flow») und «embryologischer Entwicklungsgrad» sowie seit 2018 zusätzlich nach dem Kriterium «Vorliegen genetischer Varianten» (Klassifikation der Internationalen Gesellschaft zur Untersuchung vaskulärer Anomalien [ISSVA]; Tab. 1 [2]). Grundsätzlich gehören extra- und intrakranielle arteriovenöse Malformationen (AVM) zu den seltenen Erkrankungen (<1/2000 Einwohnern).
Tabelle 1: Einteilung der kongenitalen vaskulären Malformationen der Internationalen Gesellschaft zur Untersuchung vaskulärer Anomalien (ISSVA) [2].
Simple vaskuläre Malformationen
Ein Gefässtyp ist isoliert betroffen: arterielle Malformation (AM), venöse Malformation (VM), lymphatische Malformation (LM), kapilläre Malformation (CM) inklusive arterio-venöse Malformationen (AVM).
Kombinierte vaskuläre Malformationen
Zwei oder mehr Gefässtypen sind betroffen: diverse Kombinationen, z.B. kapillär-venöse Malformation (CVM), kapillär-venös-lymphatische Malformation (CVLM).
Trunkale Malformationen embryologisch ausgereifter, medizinisch benennbarer Gefässe
Trunkal leitet sich aus dem Wort «Truncus» ab und wird für grössere, embryologisch ausgereifte Blut- oder Lymphgefässe verwendet. Zu den trunkalen vaskulären Malformationen gehören Aplasien, Hypoplasien, Ektasien und nicht degenerative, nicht entzündliche Aneurysmata.
Vaskuläre Malformationen in Assoziation mit anderen Anomalien
Verschiedene kongenitale vaskuläre Malformationen sind mit Anomalien von Knochen, Viszeralorganen und Weichteilen assoziiert (meist vermehrtes Grössenwachstum, selten Minderwachstum) und werden syndromal oft mit dem Eponym ihrer Entdecker bezeichnet. Die häufigsten vaskulären Malformationssyndrome sind: Klippel-Trénaunay-Syndrom (CM + VM +/− LM + vermehrtes Extremitätenwachstum) oder Parkes-Weber-Syndrom (CM + VM +/− LM + AVM + vermehrtes Extremitätenwachstum).
Nicht klassifizierte, kongenitale vaskuläre Malformationen
Die peripheren AVM werden nach klinischem Schweregrad (Schobinger-Klassifikation, Tab. 2) und angiographischem Erscheinungsbild (Typ I–IV, Abb. 2) eingeteilt [3, 4].
Tabelle 2: Klinische Symptomatologie der peripheren kongenitalen arteriovenösen Malformationen (Schobinger-Klassifikation) [3, 4].
Stadium Klinisches Erscheinungsbild
I Ruhephase («schlafend») – Vaskulärer Hautfleck und ­Überwärmung möglich
– AV-Shunts in Doppler-Ultraschall-­Untersuchung erkennbar
– AVM vorhanden, verursacht jedoch keine klinischen Symptome
II Evolutionäre Phase 
(Zunahme) Stadium I plus:
– Vergrösserung
– Pulsationen und palpables ­Schwirren
– hörbares Maschinengeräusch
– arterialisierte elongierte/tortuöse Drainagevenen
III Destruktive Phase Stadium II plus:
– dystrophische Hautveränderungen, nicht heilende Hautulzerationen (Steal-Syndrom)
– Blutungen aus ulzerierten Bereichen der Haut oder Schleimhäuten
– Gewebenekrosen und lytische Knochenläsionen möglich
IV Dekompensierte Phase Stadium III plus:
– Herzinsuffizienz mit erhöhtem ­Herzzeitvolumen
– abnormal verringerter peripherer Gefässwiderstand (PVR)
– venöse Hypertonie mit sekundären Hautveränderungen (Ulcus cruris)
Abbildung 2: Angiographische Klassifikation von arteriovenösen Malformationen (nach Wayne Yakes) [3, 4].
Typ I Direkte Verbindung von Arterie/Arteriole zu Venule/Vene.
Typ II Mehrere zuführende Arterien/Arteriolen, die durch einen dazwischen liegenden «Nidus» ohne dazwischen liegendes Kapillarbett in mehrere abfliessende Venen drainieren.
Typ IIIa Mehrere zuführende Arterien/Arteriolen, die in eine aneurysmatische Vene mit einer einzelnen Abflussvene shunten.
Typ IIIb Mehrere zuführende Arterien/Arteriolen, die in eine aneurysmatische Veneshunten, die über mehrere Abflussvenen drainiert wird.
Typ IV Mehrere Arterien/ Arteriolen, die unzählige Mikrofisteln bilden, die das betroffene Gewebe diffus infiltrieren. Eingebettet in diese Mikrofisteln ist ein erhaltenes nutritives Kapillarbett, das die Lebensfähigkeit des betroffenen Gewebes erhält.
Bei der Fallbeschreibung in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum handelt es sich um eine simple, isolierte AVM des linken Daumens (gemäss Klassifikation der ISSVA) im klinischen Stadium II (nach Schobinger) mit pathognomonischem klinischem Bild und Verlauf [5]. Die meisten AVM haben anatomische, pathophysiologische und hämodynamische Konsequenzen, die bei fehlender Behandlung im jungen Erwachsenenalter zu einer Beeinträchtigung verschiedener Organsysteme führen können. Bei progredientem Verlauf sollte daher zeitnah ein individueller, interdisziplinärer Behandlungsplan erstellt werden. Mehrheitlich werden minimalinvasive interventionelle Behandlungsmethoden eingesetzt sowie ein mehrzeitiges Vorgehen zur Minimierung von Komplikationen empfohlen. Therapie der Wahl ist die direkt perkutane oder retrograd trans­venöse Embolisation mittels Katheter, wobei die Behandlung aufgrund der hohen Komplikationsrate mit Nekrosen und Neuropathien anspruchsvoll ist und sich die Techni­k nach dem angiographischen Erscheinungsbild richtet [6]. Absoluter, 96%iger Alkohol, in Verbindung mit einem Coiling des «Nidus», ist als die effektivste Technik etabliert. Entscheidend für den Therapieerfolg ist die Ausschaltung des Nidus, der den Ort der Kurzschlussverbindung zwischen der Arterie und der oft aneurysmatisch erweiterten Drainagevene darstellt [7]. Die Angiographie der Patientin im Fallbericht der vorliegenden Ausgabe zeigt den typischen Befund einer AVM Typ IIIB mit multiplen zuführenden Arterien und drainierenden Venen sowie einem Nidus, der als aneurysmatische Aufweitung der Drainagevene in der Übergangszone erkennbar ist. Bei guter Zugänglichkeit einer isolierten AVM ist die chirurgische Behandlung mit den gleichen Standards des mehrzeitigen Vorgehens und der kompletten Entfernung des Nidus der Embolisation vergleichbar und bietet sich, wie im beschriebenen Fall, bei anatomisch heiklen Strukturen wie denen der Hand an [8, 9].
Kombinierte AVM und AVM in Assoziation mit anderen Anomalien, wie beispielsweise das Parkes-Weber-Syndrom, sind sowohl mit Kathetertechnik als auch chirurgisch herausfordernd und nur eingeschränkt therapierbar. Die Patientinnen und Patienten haben oftmals einen schweren Verlauf und sind durch die Auswirkungen der Dekompensation gefährdet. Der Nachweis genetischer Varianten eröffnet zukünftig allerdings Möglichkeiten der medikamentösen Behandlung mit Einsatz von Medikamenten, die bei anderen Erkrankungen, beispielsweise in der Onkologie, bereits eingesetzt werden [10, 11]. In Abgrenzung zur klassischen Chemotherapie mit Zytostatika nutzen die neuartigen Arzneistoffe, wie die «small molecules» (Namensendung «-mib» oder «-nib»), bestimmte biologische und zytologische Eigenarten der genetischen Krebszellvarianten aus. Da diese Merkmale auf gesunden Zellen meist kaum oder gar nicht vorkommen, ist die gezielte Therapie («targeted therapy») verträglicher und wirksam. Randomisierte Studien zum Einsatz dieser Substanzen bei verschiedenen kongenitalen Gefässmalformationen laufen bereits. Im Rahmen eines SINERGIA-Forschungsprojekts werden auch in der Schweiz systematische Untersuchungen der genetischen Varianten im Gewebe durchgeführt und die Ergebnisse mit den Europäischen Referenz-Netzwerken für seltene Gefässerkrankungen ausgetauscht, um Behandlungskonzepte mit ausreichend grosser Fallzahl prüfen zu können.
Forschungsunterstützung im Rahmen des SINERGIA-Projektes des Schweizerischen Nationalfonds (CRSII5_193694, «Disease-targeted next-generation sequencing panel [VASCSequ] for detection of somatic-mosaic mutations in congenital vascular malformations to enable further advances in personalized therapeutic decision making»).
Prof. Dr. med.
Iris Baumgartner
Klinikdirektorin, Univer­sitätsklinik für Angiologie
Medizinbereich Herz/Gefäss, Insel Gruppe Bern
Freiburgerstrasse 18
CH-3010 Bern
iris.baumgartner[at]insel.ch
 1 Van Damme A, Seront E, Dekeuleneer V, Boon LM, Vikkula M. New and emerging targeted therapies for vascular malformations. Am J Clin Dermatol. 2020;21(5):657–68.
 2 International Society for the Study of Vascular Anomalies (ISSVA), Classification of Vascular Anomalies ©2018; available at «https://www.issva.org/classification» (letzter Aufruf am 23.10.2021)
 3 Lee BB, Baumgartner I, Berlien HP, Bianchini G, Burrows P, Do YS, et al. Consensus document of the International Union of Angiology (IUA)-2013. Current concept on the management of arterio-venous management. Int Angiol. 2013;32(1):9–36.
 4 Frey S, Cantieni T, Vuillemin N, Haine A, Kammer R, von Tengg-Kobligk H, et al. Angioarchitecture and hemodynamics of microvascular arterio-venous malformations. PLoS One. 2018;13(9):e0203368.
 5 Lüdi A, Mathys L, Kohl S. Pulsierende, schmerzhafte Schwellung am Daumen. Swiss Med. Forum. 2021;21(49–50):854–6.
 6 Lee KB, Kim DI, Oh SK, Do YS, Kim KH, Kim YW. Incidence of soft tissue injury and neuropathy after embolo/sclerotherapy for congenital vascular malformation. J Vasc Surg. 2008;48(5):1286–91.
 7 Yakes W, Huguenot M, Yakes A, Continenza A, Kammer R, Baumgartner I. Percutaneous embolization of arteriovenous malformations at the plantar aspect of the foot. J Vasc Surg. 2016;64(5):1478–82.
 8 Park HS, Do YS, Park KB, Kim DI, Kim YW, Kim MJ, et al. Ethanol embolotherapy of hand arteriovenous malformations. J Vasc Surg. 2011;53(3):725–31.
 9 Roh YN, Do YS, Park KB, Park HS, Kim YW, Lee BB, et al. The results of surgical treatment for patients with venous malformations. Ann Vasc Surg. 2012;26(5):665–73.
10 Wooderchak-Donahue WL, Johnson P, McDonald J, Blei F, Berenstein A, Sorscher M, et al. Expanding the clinical and molecular findings in RASA1 capillary malformation – arteriovenous malformation. Eur J Hum Genet. 2018;26(10):1521–36.
11 Al-Olabi L, Polubothu S, Dowsett K, Andrews KA, Stadnik P, Joseph AP, et al. Mosaic RAS/MAPK variants cause sporadic vascular malformations which respond to targeted therapy. J Clin Invest. 2018;128(11):5185.