Behandlung venöser Thromboembolien im Kindesalter
Schweizer Expertenkommentar: ASH 2018 Guidelines for Management of Venous Thromboembolism

Behandlung venöser Thromboembolien im Kindesalter

Aktuell
Ausgabe
2021/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08839
Swiss Med Forum. 2021;21(3334):572-573

Affiliations
a Hématologie-oncologie pédiatrique, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne; b Abteilung Hämatologie, Universitäts-Kinderspital Zürich

Publiziert am 18.08.2021

Schweizer Expertenkommentare zu den «American Society of Hematology (ASH) 2018 Guidelines for Management of Venous Thromboembolism».

Einleitung

Die Epidemiologie und Pathophysiologie thrombotischer Ereignisse sowie die Besonderheiten des Gerinnungssystems im Kindesalter verlangen nach speziell an Kinder angepasste Leitlinien zur Anwendung antithrombotischer Medikamente. Der hier in Kurzfassung vorgestellte pädiatrische Teil der Leitlinien der «American Society of Hematology» (ASH) 2018 soll helfen, Entscheidungen über die Behandlung von tiefen Venenthrombosen (TVT) und Lungenembolien (LE) im Kindesalter zu treffen [1].

Eine Auswahl der wichtigsten ­ASH-Empfehlungen

1. Alle Kinder mit symptomatischer TVT oder LE sollen primär mit niedermolekularem Heparin oder Vitamin-K-Antagonisten antikoaguliert werden. Eine Thrombolyse gefolgt von einer Antikoagulation wird nur bei hämodynamisch relevanten LE empfohlen. Eine Thrombektomie oder die Einlage eines Vena-Cava-Filters wird grundsätzlich nicht empfohlen.
2. Bei Kindern mit asymptomatischen TVT/LE soll auf individueller Basis entschieden werden, ob eine Anti­koagulation notwendig ist oder nicht.
3. Eine Ersatztherapie mit Antithrombin wird nur bei Kindern mit TVT oder LE empfohlen, die klinisch auf die Standardantikoagulation nicht ansprechen und bei denen die anschliessende Messung der Anti­thrombinkonzentration verminderte Antithrombinwerte (auf der Grundlage altersgerechter Referenzbereiche) zeigen.
4. Die Dauer der Antikoagulation bei Kindern mit provozierter TVT/LE soll ≤3 Monate und bei Kindern mit unprovozierter TVT/LE 6–12 Monate betragen.
5. Bei Kindern mit einer symptomatischen Zentral­venenkatheter-(ZVK-)assoziierten Thrombose, die weiterhin einen venösen Zugang benötigen, soll ein noch funktionierender ZVK nicht entfernt werden. Eine Entfernung des ZVKs wird hingegen bei nicht funktionierendem oder nicht mehr benötigtem ZVK sowie bei klinischer Verschlechterung trotz Antikoagulationstherapie empfohlen. Eine Entfernung des ZVKs soll 3–5 Tage nach Beginn der Antikoagulation stattfinden, um mögliche Thrombo­embolien zu verhindern.
 6. Eine Antikoagulation bei oberflächlichen ZVK-assoziierten Thrombosen soll bei Kindern mit einem noch funktionierenden ZVK, die weiterhin einen venösen Zugang benötigen oder fortschreitende Symptome zeigen, in Erwägung gezogen werden.
 7. Bei Neugeborenen mit Nierenvenenthrombose wird eine Antikoagulation befürwortet. Eine Thrombolyse wird nur bei Neugeborenen mit lebensbedrohlicher, bilateraler und/oder in die Vena cava reichender Nierenvenenthrombose empfohlen.
 8. Bei Portalvenenthrombosen, die okklusiv sind, nach Lebertransplantation oder idiopathisch entstanden sind, wird eine Antikoagulation befürwortet. Bei Portalvenenthrombosen mit nicht okklusivem Thrombus oder portaler Hypertension wird keine Antikoagulation empfohlen.
 9. Kinder mit Sinusvenenthrombose sollen eine Antikoagulation bekommen, unabhängig davon, ob eine Hirnblutung vorliegt oder nicht. Von einer Thrombolyse wird hingegen abgeraten.
10. Bei Kindern mit Purpura fulminans bei homozygotem Protein-C-Mangel steht in erster Linie eine Ersatztherapie mit Protein C im Vordergrund. In der akuten Phase wird eine zusätzliche Antikoagulation empfohlen. Für den langfristigen Verlauf wird eine regelmässige Ersatztherapie mit Protein C gegenüber eine Antikoagulation bevorzugt.

Kommentare der Schweizer Experten

Wie die bisherigen Richtlinien des «American College of Chest Physicians» (ACCP) [2] beruhen diese ersten, 2018 publizierten pädiatrischen ASH-Guidelines auf einer sehr geringen oder wenig sicheren Evidenz. Diese Leitlinien widerspiegeln aber den zurzeit bestmöglichen antithrombotischen Therapieansatz für Neugeborene und Kinder. Die ASH-Guidelines widersprechen in keiner Weise den letzten, 2012 publizierten ACCP-Richt­linien.
Auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnisse ist es anzunehmen, dass eine Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin oder Vitamin-K-Antagonisten bei einem Kind mit symptomatischer TVT/LE das Risiko von Thrombusrezidiven und die Mortalität verringert. Diese Annahme ist aber bei asymptomatischen, das heisst per Zufall oder aufgrund radiologischer Untersuchungen identifizierten TVT/LE weniger sicher.
2018 waren die neuen direkten oralen Antikoagulantien (DOACs) bei Kindern noch nicht zugelassen und somit auch noch nicht in den Leitlinien berücksichtigt. In den letzten Jahren liefen mehrere pädiatrische Studien mit allen bei Erwachsenen zugelassenen ­DOACs, die spezifische pädiatrische Formulierungen sowie alters- und gewichtsangepasste Dosisrichtlinien enthalten. Ergebnisse aus Phase-III-Studien mit den mittlerweile auch für Kinder zugelassenen Dabigatran Etexilate und Rivaroxaban zeigen, dass diese neuen Antikoagulantien zur Behandlung und Prävention von TVT/LE bei Kindern mit unterschiedlichen Grundkrankheiten mindestens so effizient und sicher sind wie niedermolekulares Heparin und Vit­amin-K-Antagonisten [3].
Es gibt zwar weiterhin keine Daten über das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Thrombolyse, man muss aber klar davon ausgehen, dass das Blutungsrisiko einer Thrombolyse bei Kindern und vor allem Neugeborenen deutlich erhöht ist [4]. Deswegen empfehlen wir eine Thrombolyse nur im Falle lebens- oder organbedrohender Thrombosen wie zum Beispiel einer hämodynamisch relevanten LE oder einer bilateralen und/oder in die Vena cava reichenden Nierenvenenthrombose durchzuführen. Wenig Evidenz liegt auch in Bezug auf die Durchführung einer chirurgischen Thrombektomie oder der Einlage eines Vena-Cava-Filters vor. Es wird angenommen, dass beide Massnahmen das Risiko von Thrombusrezidiven und Blutungskomplika­tionen erhöhen. Als solche sollten diese Eingriffe nur unter bestimmten, begrenzten Umständen durchgeführt werden.
Aus eigener Erfahrung befürworten wir die Bestimmung des Antithrombins bei Kindern, die den gewünschten Zielbereich der Heparintherapie und deswegen kein Ansprechen auf die Antikoagulation zeigen. Bei diesen Kindern ist eine Antithrombinsubstitution unserer Meinung nach notwendig mit dem Ziel, einen Antithrombinwert von 80% zu erreichen Es ist zu beachten, dass bei einer Antithrombinsubstitution die Heparindosis die empfohlene Dosierungsrichtlinie nicht überschreiten darf. Wird dies nicht beachtet, könnte es zu Blutungskomplikationen führen.
Die Dauer der Antikoagulation wird aus Erwachsenendaten abgeleitet und beträgt ≤3 Monate für eine provozierte und 6–12 Monate für eine unprovozierte TVT/LE. Für Kinder mit provozierter TVT/LE und persistierendem Risikofaktor soll eine längere Antikoagulation diskutiert werden.
ZVK stellen den häufigsten Risikofaktor für TVT/LE im Kindesalter dar. Zusätzlich zur Antikoagulation stellt sich immer die Frage, ob der ZVK entfernt oder belassen werden soll. Es scheint dabei sinnvoll, die Entscheidung von der Funktionalität und Notwendigkeit des ZVKs abhängig zu machen. Diese Entscheidung soll somit auf individueller Basis getroffen werden und zusätzliche Faktoren wie Verfügbarkeit eines weiteren Gefässzugangs, Notwendigkeit eines Gefässzugangs zur erfolgreichen Behandlung der Grunderkrankung und Risiko einer chirurgischen Entfernung in einer bestimmten klinischen Situation berücksichtigen.
Homozygoter Protein-C-Mangel ist eine sehr seltene Gerinnungsstörung, die mit einem erhöhten Risiko für thromboembolische Ereignisse verbunden ist. In der Regel manifestiert sich diese Störung unmittelbar nach der Geburt mit einer lebensbedrohlichen Purpura fulminans. Bei einer akuten Purpura fulminans bei Kindern mit homozygotem Protein-C-Mangel stellt primär eine Ersatztherapie mit Protein C eventuell in Kombination mit einer Antikoagulation die Therapie der Wahl dar. Eine Antikoagulation allein ist nicht ausreichend und somit nicht zu empfehlen [5].
Die Kommentare von Schweizer Expertinnen und Experten wurden durch die Firmen Bayer (Schweiz) AG, Pfizer und Sanofi-Aventis (Schweiz) AG mit einem «unrestricted educational grant» unterstützt. M. Rizzi: Die Autoren deklarieren, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag.
Prof. Dr. med.
Manuela Albisetti
Abteilung Hämatologie
Universitäts-Kinderspital Zürich
Steinwiesstrasse 75
CH-8032 Zürich
manuela.albisetti[at]kispi.uzh.ch
1 Monagle P, Cuello CA, Augustine C, Bonduel M, Brandão LR, Capman T, et al. American Society of Hematology 2018 Guidelines for management of venous thromboembolism: treatment of pediatric venous thromboembolism. Blood Adv. 2018 Nov 27;2:3292–316.
2 Monagle P, Chan AKC, Goldenberg NA, Ichord RN, Journeycake JM, Nowak-Göttl U, Vesely SK. Antithrombotic therapy in neonates and children: Antithrombotic Therapy and Prevention of Thrombosis, 9th ed: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines. Chest. 2012;141:e737S–e801S.
3 Albisetti M. Use of Direct Oral Anticoagulants in Children and Adolescents. Hamostaseologie. 2020;40:64–73.
4 Albisetti M. Thrombolytic therapy in children. Thromb Res. 2006;118:95–105.
5 Kroiss S, Albisetti M. Use of human protein C concentrates in the treatment of patients with severe congenital protein C deficiency. Biologics. 2010;4:51–60.