Personalisierung und Digitalisierung
Jubiläumsschlaglicht: Klinische Pharmakologie und Toxikologie

Personalisierung und Digitalisierung

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2021/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2021.08942
Swiss Med Forum. 2021;21(5152):872-873

Affiliations
a Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Bereich Innere Medizin, Inselspital Bern; b Pharmakoepidemiologie, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, ETH Zürich

Publiziert am 21.12.2021

«Man muss sich immerfort verändern, erneuern, verjüngen, um nicht zu verstocken.» – Johann Wolfgang von Goethe

Einführung

Ziel der Klinischen Pharmakologie ist es, Wirksamkeit und Sicherheit bei der klinischen Anwendung von Arzneimitteln bei Menschen zu verbessern. Das Fachgebiet hat sich von der ursprünglichen klinischen Prüfung mit der pharmakokinetischen und -dynamischen Charakterisierung von Arzneimitteln stark weiterent­wickelt und umfasst heute viele spezialisierte Schwerpunkte, von translationalen Wissenschaften überProteo-/Metabol-/Pharmakogenomic Technologien, regulatorischen Aspekten, Pharmacovigilance und Arzneimittelsicherheit bis zu Real-World-Datenanalysen und Präzisionsmedizin.
In den letzten Jahrzehnten haben wir grosse technologische Fortschritte in der Arzneimittelforschung sowie eine rasche Zunahme von Regulierung und Digitalisierung erlebt. Der Wandel hin zu einer spezialisierten und personalisierten Gesundheitsversorgung mit einer patientenzentrierten Pharmakologie bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen für das Fachgebiet.

Individualisierte Pharmakotherapie

Das Ziel der Klinischen Pharmakologie und Toxikologie ist die Förderung einer effektiven, rationalen, adaptierten, sicheren und monitorierten (ERASM) Pharmakotherapie sowie das rationale und effektive Management von Intoxikationen beim Menschen. Dabei verbindet das Fachgebiet klinische Expertise mit Erkenntnissen aus experimentell-medizinischen Grundlagenwissenschaften und klinischer Forschung. Vor allem Erkenntnisse der Pharmakogenetik führten zu einem besseren Verständnis von genetischen und umweltbedingten Einflüssen auf arzneimittelmetabolisierende Enzyme, Arzneimittel-Transporter und -rezeptoren. Pharmakoepidemiologische Erkenntnisse haben ergänzend zu einer besseren Charakterisierung von seltenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen beigetragen.
Bei der Individualisierung der Arzneimitteltherapie spielen vor allem bei Arzneimitteln mit engem therapeutischen Bereich klinisch- pharmakologische Methoden wie das «Therapeutische Drug Monitoring» (TDM) eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren hat sich das TDM von der simplen Talspiegelmessung von niedermolekularen Arzneistoffen weiterentwickelt und verwendet heute komplexere Methoden (Zwei-Punkte-Messung für konzentrationsabhängige Antibiotika wie Aminoglykoside/Daptomycin oder Populations-pharmakokinetisches/ Bayesian-Modelling etwa für Immunsuppressiva oder Antiretroviralia) um die Arzneimittelexposition besser abzuschätzen [1]. Auch bei den Biologika wie etwa den TNFalpha-Antikörpern trägt TDM dazu bei, eine klinische Remission zu erreichen sowie Patientinnen und Patienten mit primärem oder sekundärem Therapie-Versagen frühzeitig zu identifizieren [2].
Die individuelle Reaktion eines Patienten auf eine Arzneimitteltherapie wird von genetischen und umweltbedingten Einflüssen geprägt. Mittels Genotypisierung kann die Funktion von einigen arzneistoffmetabolisierenden Enzymen (wie z.B. Cytochrom P450 Isoenzyme, CYP) oder Transportproteinen a priori abhängig von identifizierten Allelen vorausgesagt werden. Da Umwelteinflüsse oder interagierende Begleitmedikamente die genetisch codierte Aktivität jedoch verändern können, ermöglicht eine ergänzende Phänotypisierung, Informationen über die zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich vorhandene Aktivität dieser Enzyme oder Transportproteine zu erhalten.
1987 wurde das erste polymorphe CYP (CYP2D6) und wenige Jahre später von klinischen Pharmakologen in Zürich die ersten Arzneimittel-Transporter geklont [3]. Inzwischen ist für eine Reihe von Arzneistoffen der Einfluss des Genotyps auf den Dosisbedarf oder das Risiko für unerwünschte Wirkungen soweit etabliert, dass einzelne Tests (z.B. TPMT-Azathioprin/6-Mercaptopurin oder DPYD-5-FU/Capecitabin) von allen Ärzten in der Schweiz unabhängig vom Facharzttitel verordnet werden können. Nicht gelistete Tests müssen aktuell noch durch einen klinischen Pharmakologen verordnet (und interpretiert) werden, damit sie durch die Krankenkasse vergütet werden. Beigewissen CYP-Isoformen (z.B. 2D6, 2C9, 2C19) sind die Zusammenhänge zwischen Genotyp und Dosisbedarf für eine Reihe von Arzneistoffen soweit etabliert, dass sie in elektronische klinische Informationssysteme integriert werden können. Zu einzelnen Wirkstoffen wurde die Genotypisierung für die Dosisbestimmung bereits in spezifische Guidelines (z.B. CYP3A5/Tacrolimus) oder in die offizielle Fachinformation aufgenommen (z.B. CYP2C9/Siponimod).
Bei der Phänotypisierung haben klinische Pharmakologen in Genf und Basel das zu Beginn für die klinische Anwendung untaugliche Verfahren so weiterentwickelt, dass es heute im klinischen Alltag eingesetzt werden kann. Statt einem halben Dutzend verschiedener Tabletten können die tiefdosierten Testsubstanzen heute in einer einzigen Kapsel verabreicht werden und die aufwändige Probensammlung wurde auf eine einzige Blutprobe reduziert (Abb. 1 «one pill – one sample»). Mit diesen modernen «Basler» [4] bzw. «Genfer» [5] Phanotypisierungs-Cocktails kann so der über CYP laufende Arzneistoffmetabolismus ambulant innert weniger Stunden abgeklärt werden. Angeboten wird dies von mehreren klinisch pharmakologischen Zentren in ihren ambulanten Sprechstunden, wo Patienten mit Arzneimittel-assoziierten Problemen beispielsweise bei Polypharmazie oder ungenügender respektive übermässiger Reaktion auf ein Arzneimittel abgeklärt werden können.
Abbildung 1: Kombi-Kapsel für die Phänotypisierung mit dem «Basler Cocktail»
Die Kapsel enthält 6 verschiedene tiefdosierte Testsubstanzen für die Phänotypisierung der wichtigsten arzneistoffmetabolisierenden Cytochrom P450 Isoenzyme (CYP1A2, 2B6, 2C9, 2C19, 2D6, 3A4). Die einzelnen Testsubstanzen sind alle in der Schweiz als Arzneistoffe zugelassen und werden verpresst zu einzelnen Mini-Tabletten in der Kapsel kombiniert.

Digitalisierung als klinischer Support

Der rasche technologische Fortschritt und die wachsende Menge digitaler Patientendaten sind Herausforderung und Chance zugleich. Von klinischen Pharmakologen entwickelte Algorithmen ermöglichen heute bei hospitalisierten Patientinnen und Patienten mit Polypharmazie ein systematisches und halbautomatisiertes Screening der Arzneimittelsicherheit. Solche Algorithmen lassen sich in modernen Klinikinformationssystemen mit individuellen Patientendaten wie genetischen Merkmalen oder bekannten Allergien verknüpfen. Basierend darauf können der betreuenden Ärztin oder dem betreuenden Arzt bei der ­Ver­ordnung («at point of care») massgeschneiderte ­Handlungsempfehlungen (z.B. Dosisempfehlung für langsame, intermediäre oder schnelle Metabolisierer) zur Verfügung gestellt werden. Solche «Clinical Decision Support» (CDS)-Systeme behalten ihren Nutzen aber nur, wenn sie im Hintergrund von spezialisiertem Personal engmaschig überwacht und weiterentwickelt werden. Dabei ist entscheidend, dass die klinischen Pharmakologinnen und Pharmakologen im Alltag eng zusammenarbeiten, sowohl mit Kliniken, die viele polymorbide und polymedizierte Patientinnen und Patienten versorgen (v.a. Innere Medizin oder Geriatrie), als auch mit klinischen Spezialistinnen und Spezialisten, die komplexe und zu überwachende Therapien durchführen.

Ausblick

Intelligent programmierte Softwaresysteme werden in Zukunft die klinischen Pharmakologinnen und Pharmakologen von Routine-Aufgaben entlasten und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte direkt unterstützen. Die zunehmend verfügbaren individuellen pharmakogenetischen Daten in Kombination mit pharmakologischen Modellen werden eine präzisere Individualisierung der Pharmakotherapie ermöglichen. Selbstlernende Softwarealgorithmen werden die rasch wachsende Menge an digitalen Patientendaten teilautonom auswerten und die grossen Datenmengen effizient etwa auf noch nicht bekannte Schädigungsmuster von neuen Arzneistoffen durchforsten. So können mögliche Signale früher erkannt und proaktiv überwacht werden. Zusammen werden diese Entwicklungen die Sicherheit der Pharmakotherapie in der wachsenden Gruppe polymorbider Patientinnen und Patienten mit Polypharmazie verbessern.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med.
Stefan Weiler, PhD
Inselspital, ­Universitätsspital Bern
Freiburgstrasse
CH-3010 Bern
Stefan.Weiler[at]insel.ch
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2 Argollo M, Kotze PG, Kakkadasam P, D’Haens G. Optimizing biologic therapy in IBD: how essential is therapeutic drug monitoring? Nat Rev Gastroenterol Hepatol. 2020;17(11):702–10. doi:10.1038/s41575-020-0352-2.
3 Meier PJ, Stieger B. Bile salt transporters. Annu Rev Physiol. 2002;64:635–61.
4 Donzelli M, Derungs A, Serratore MG, Noppen C, Nezic L, Krähenbühl S, Haschke M. The basel cocktail for simultaneous phenotyping of human cytochrome P450 isoforms in plasma, saliva and dried blood spots. Clin Pharmacokinet. ­2014;53(3):271–82.
5 Bosilkovska M, Samer CF, Déglon J, Rebsamen M, Staub C, Dayer P, Walder B, Desmeules JA, Daali Y. Geneva cocktail for cytochrome p450 and P-glycoprotein activity assessment using dried blood spots. Clin Pharmacol Ther. 2014;96(3):349–59.