Arterielles popliteales Entrapment-Syndrom bei einem jungen Topathleten

Arterielles popliteales Entrapment-Syndrom bei einem jungen Topathleten

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08729
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Hintergrund

Aussergewöhnliche klinische Manifestation
Das arterielle popliteale Entrapment-Syndrom (PAES) ist eine seltene Ursache für eine arterielle Ischämie der unteren Extremitäten, die sich meistens durch eine intermittierende Claudicatio, seltener auch durch chronische Schmerzen im Unterschenkel oder eine akute oder subakute Embolisation manifestiert.
Das Syndrom wurde erstmals 1879 von dem Medizinstudenten Anderson Stuart während einer anatomischen Dissektion beschrieben [1]. Die Inzidenz des PAES ist weiterhin unklar, bei Untersuchungen von asymptomatischen Patienten und in einer Studie von Autopsien wird ein Auftreten zwischen 0,17 und 3,5% berichtet [2, 3]. Die Pathogenese gründet auf einer abnormalen Beziehung zwischen der Arteria poplitea und den umgebenden muskulotendinösen Strukturen in der Fossa poplitea [4]. Nach der Pathogenese ist das Syndrom in zwei Formen unterteilt:
  • Angeborene Form.
  • Funktionelle Form. Diese ist möglicherweise auf eine Hypertrophie der die Arteria poplitea umgebenden Muskeln zurückzuführen [5].
Eine häufig verwendete Klassifikation für das angeborene PAES wurde von Delaney et al. beschrieben (Tab. 1, Abb. 1) [6].
Tabelle 1:
Klassifikation für PAES [6]
TypCharakteristika
IDie Arteria poplitea läuft abnorm medial des medialen Korpus des Musculus gastrocnemius, welcher wie üblich inseriert.
IIDer mediale Kopf des Musculus gastrocnemius hat eine abweichende Insertion, die zur Kompression führt.
IIIDer mediale Kopf des Musculus gastrocnemius hat eine zusätzliche Sehne im Bereich der Insertion.
IVKompression der Arteria poplitea beim Verlauf unter dem Musculus popliteus oder dem fibrösen Gewebe.
Abbildung 1:
Klassifikation PAES
Die arterielle Kompression kann zu einem chronischen vaskulären Mikrotrauma mit lokaler vorzeitiger Atherosklerose und Thrombusbildung führen [7] und ist eine progressive Erkrankung. Eine frühzeitige Diagnose ist essenziell, um schwerwiegende Komplikationen, einschliesslich poststenotischer Aneurysmen und distaler Embolisation, mit dem Risiko einer nachfolgenden Ischämie, zu verhindern [8].Die Bildgebung spielt eine zentrale Rolle bei der Diagnose des PAES, wobei die Sonografie hierbei die Modalität der Wahl darstellt. Die MR- und CT-Angiografie bietet ebenfalls eine genaue Analyse des Muskelverlaufs und möglicher Konflikte mit den poplitealen ­Gefässen [9].

Fallbeschreibung

Anamnese

Anfang 2017 bemerkte ein professioneller Skifahrer während des Trainings zum ersten Mal einen Wadenschmerz, der nach einer kurzen Pause von 30 Sekunden vollständig verschwand. Einige Monate zuvor hatte er eine Distorsion des linken Knies erlitten mit einem partiellen Riss des medialen Kollateralbandes, welche konservativ behandelt wurde. Die persönliche Anamnese und die Familienanamnese ergaben keine ­Hinweise auf Gefässerkrankungen, Diabetes, Hyper­lipidämie, Bluthochdruck oder Thrombophilie. Nach der Sonografie in der hausärztlichen Praxis ­wurde primär die Diagnose einer tiefen Unterschenkel-Venenthrombose gestellt und der Patient antikoaguliert mit der zweimal täglichen Einnahme von ­Rivaroxaban 15 mg für drei Wochen mit nachfolgender Reduktion auf Rivaroxaban 20 mg einmal täglich für insgesamt drei Monate. Zwei Monate später waren die Schmerzen tendenziell besser, jedoch konnte die Symptomatik weiterhin durch Sport provoziert werden. Dies wurde als Unfall-Folge der Knie-Distorsion interpretiert. Zusätzlich zeigte sich im Verlauf dann aber seine Laufleistung ­abnehmend sowie eine Aggravation der Beschwerden beim Tragen der Kompressionsstrümpfe. Aufgrund der anhaltenden Symptome wurde der Patient schliesslich der erneuten angiologischen Abklärung zugewiesen.

Status und Befunde

Die körperliche Untersuchung lieferte im Wesentlichen unauffällige Ergebnisse. Die distalen Pulse am linken Bein waren tastbar, jedoch im Vergleich zur Gegenseite etwas abgeschwächt. Der Knöchel-Arm-Index (ABI) in Ruhe lag rechts bei 1,27, links bei 0,82. In einer Duplexsonografie zeigte sich ein segmentaler Verschluss des zweiten Poplitealsegmentes sowie eine kräftige Kollateralisierung im Bereich des Kniegelenks, weswegen zur präziseren Beurteilung ein MRI durchgeführt wurde. Dieses bestätigte den Befund der Duplexsonografie und zeigte als Ursache für die ­Okklusion der Arteria poplitea einen akzessorischen Ansatz des medialen Kopfes des Musculus gastrocnemius, während die Gegenseite eine normale Anatomie aufwies.
Abbildung 2:
MR-Angiografie: Verschluss der proximalen linken Arteria poplitea bei atypischem Verlauf der Arterie weit medial, welche ca. 3 cm oberhalb des Gelenkspaltes von einem zweiten Sehnenzügel des Musculus gastrocnemius medialis umschlungen und eingeengt wird. Wiederkontrastierung auf Höhe des Gelenkspaltes über Kollateralen mit 3-Gefäss-Unterschenkel-Run-off.

Diagnose

Es konnte die Diagnose eines poplitealen Entrapments Typ III gestellt werden.

Therapie und Verlauf

Nach der Sprechstunde wurde die zeitnahe operative Versorgung geplant. Hierbei wurde ein popliteo-popliteales umgedrehtes Vena-Saphena-Magna-Interponat eingebracht, sowie eine Tenolyse der aberrierenden Sehne des Musculus gastrocnemius durchgeführt.Postoperativ wurde eine Thrombozytenaggregationshemmung mit Acetylsalicylsäure (ASS) für einen Zeitraum von drei Monaten verordnet. Postoperativ stellte sich die periphere Durchblutung auf beiden Seiten – abgesehen von einer etwas geringeren Durchblutung der Grosszehe – nahezu gleich dar. Ohne das Auftreten von Komplikationen konnte der Patient am vierten postoperativen Tag entlassen werden. Die klinischen und duplexsonografischen Nachkontrollen nach einem, respektive zwei Jahren postoperativ zeigten einen beschwerdefreien Patienten mit guter Durchblutung des Unterschenkels und unauffälligem Veneninterponat popliteal.

Diskussion

Die Atherosklerose ist die häufigste vaskuläre Ursache für durch körperliche Betätigung hervorgerufene Beinschmerzen. Wenn jedoch bei einer jüngeren Patientengruppe oder bei älteren Patienten ohne Risikofaktoren für Atherosklerose eine Claudicatio intermittens auftritt, sollten andere Ursachen für Symptome einer peripheren Arterienobstruktion in Betracht ­gezogen werden [4]. Das popliteale Entrapment-Syndrom (PAES) ist eine relativ seltene Ursache für arterielle Ischämien der unteren Extremitäten. Es wird von einer Inzidenz zwischen 0,17 [3] und 3,5% [2] berichtet [10]. 60–80% der PAES-Patienten sind jünger als 30 Jahre und weniger als 10% der PAES-Fälle treten bei Personen mittleren Alters auf [11].
Dieser Fall demonstriert eindrücklich die diagnostischen Schwierigkeiten dieses Krankheitsbildes.
Ohne sportliche Aktivität war die Kompensation dieses gut trainierten Patienten ausgezeichnet, wobei alle drei Gefässe distal der komprimierten Arteria poplitea durch Kollateralen reperfundiert wurden. Es verwundert daher nicht, dass die Diagnose nicht auf Anhieb gestellt werden konnte, vor allem auch, weil die klinische Untersuchung nahezu unauffällig war.
Die wichtigsten Untersuchungsergebnisse bei PAES sind abgeschwächte distale Pulse im Vergleich zur unbeteiligten Seite oder Zunahme der Abschwächung der Pulse bei Fussstellung in Dorsal- oder Plantarflexion und Kniestreckung [6].
Eine frühzeitige Diagnose sollte mittels Ultraschall, Computertomografie-Angiografie (CTA) oder Magnetresonanz-Angiografie (MRA) erfolgen [8, 9, 12].Dieser Patient wurde wegen der Manifestation chronischer Schmerzen im Unterschenkel – insbesondere im Zusammenhang mit körperlicher Anstrengung – vorstellig. Aufgrund der unlängst erlittenen Verletzung wurden zunächst posttraumatische Folgen angenommen sowie eine tiefe Beinvenenthrombose diagnostiziert und behandelt. Bei Beschwerdepersistenz trotz Therapie wurde schlussendlich die Möglichkeit einer arteriellen Obstruktion in Betracht gezogen, die Verdachtsdiagnose eines PAES mittels Duplexsonografie erhärtet und mittels MR-Angiografie bestätigt. Gemäss der Klassifikation nach Delaneys gehörte dieser Fall zum Typ III.Aufgrund des verständlicherweise hohen Anspruchs auf eine uneingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit des Spitzensportlers und auch des jungen ­Alters wurde eine frühestmögliche operative Versorgung angestrebt, obwohl in Ruhe und bei moderater Belastung keine Beschwerden vorlagen und bei etabliertem, gut kollateralisiertem Verschluss keine Embolisationsgefahr mehr bestand. Mittels offener Technik erfolgte die Wiederherstellung der poplitealen Direktüberbrückung mit einem Veneninterponat.Grundsätzlich wird ein aktives Vorgehen empfohlen, sobald ein PAES klinische Symptome aufweist, jedoch schlagen einige Autoren auch schon eine chirurgische Behandlung für asymptomatisches PAES vor, um bedrohliche Komplikationen wie periphere Embolisation und poststenotische Aneurysmen möglichst zu verhindern [13, 14]. Zurzeit wird zur Behandlung des PAES die offene Operation empfohlen, dies hauptsächlich auch, um die einengenden Muskel- und Sehnenstränge – gleichzeitig mit der Revaskularisationsoperation – zu durchtrennen. Mit dem raschen Fortschritt der endovaskulären Technik auf dem Gebiet der arteriellen ­Erkrankungen wurde diese Technik ebenfalls beim PAES angewandt. Im Hinblick auf den klinischen Langzeitverlauf zeigten sich die Ergebnisse bei jungen Patienten jedoch noch unbefriedigend [15].

Das Wichtigste für die Praxis

  • PAES ist eine seltene, aber insbesondere bei jungen Patienten eine sehr wichtige Differenzialdiagnose bei Claudicatio-Symptomatik.
  • Selbst ein (schwach) palpabler Fusspuls schliesst einen arteriellen ­Verschluss bei einem jungen Sportler aufgrund der kräftig ausgeprägten Kollateralisation nicht aus.
  • Obwohl solch hervorragend kollateralisierte Verschlüsse für «gewöhnliche» Patienten meist asymptomatisch sind, kann sich bei einem Spitzensportler durch die starke Belastung eine limitierende Symptomatik entwickeln, sodass ein frühzeitiges operatives Vorgehen indiziert ist.
Die Autorinnen und Autoren danken dem Institut der Radiologie des Kantonsspitals Graubünden unter der Leitung von Prof. Thomas Böhm für das Bereitstellen und die Beurteilung des Bildmaterials.
Die Autorinnen und Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Berit Brinken, dipl. med.
Kantonsspital Graubünden Chur
Loestrasse 170
CH–7000 Chur
berit.brinken[at]ksgr.ch
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2 Gibson MH, Mills JG, Johnson GE DA. Popliteal entrapment syndrome. Ann Surg. 1977;185(3):341–8.
3 Bouhoutsos J DE. Muscular abnormalities affecting the popliteal vessels. Br J Surg. 1981;68(7):501–6.
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11 Gourgiotis S, Aggelakas J, Salemis N, Elias C, Georgiou C. Diagnosis and surgical approach of popliteal artery entrapment syndrome: A retrospective study. Vasc Health Risk Manag. 2008;4(1):83–8.
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