Tumoröse Neubildung am Handgelenk - Das Bild einer Kristallarthropathie ist vielfältig

Tumoröse Neubildung am Handgelenk - Das Bild einer Kristallarthropathie ist vielfältig

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08744
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Die 65-jährige Patientin stellte sich mit Verdacht auf Beugesehnenscheidenphlegmone auf dem Notfall der Klinik vor. Sie berichtet, seit fünf Tagen unter progredienten Schmerzen im rechten Unterarm zu leiden.

Hintergrund

Kristallarthropathien im klinischen Alltag
Kristallarthropathien sind im klinischen Alltag, vor allem bei Menschen im höheren Alter, häufig anzutreffen. Das klinische Erscheinungsbild ist vielfältig, was die Differenzialdiagnose für den behandelnden Arzt schwierig und den Therapieentscheid oft komplex macht.
Neben der am häufigsten vorkommenden Chrondrokalzinose (CPPD), auch Pseudogicht genannt, muss auch an die Apatit-Kalzinose gedacht werden. Kurz erwähnt sei auch die «klassische» Gicht als dritthäufigste Form der Kristallarthropathien, die aber in diesem Artikel nicht weiter behandelt wird. Die CPPD hat bei den über 80-Jährigen eine Prävalenz von 40% [1, 2]. Hierbei handelt es sich um Pyrophospat-Ablagerungen, die erstmals 1962 von McCarty in synovialer Flüssigkeit nachgewiesen und beschrieben wurden. Die Lokalisation der Ablagerungen ist meist intraartikulär im Bereich des hyalinen Knorpels beziehungsweise Faserknorpels, in Gelenkkapsel, Sehne und Synovia. Am häufigsten sind die grossen Gelenke wie Knie-, Schulter-, Hand- und Sprunggelenk betroffen.
Bei der Apatit-Kalzinose (Calcium hydroxyapatite depositional disease; HADD) handelt es sich um basische Phospatkristalle, die sich zumeist extraartikulär manifestieren. Häufigstes Beispiel ist die Tendinitis calcarea am Schultergelenk (auch als "Kalkschulter" bezeichnet).
Alle Kristallarthropathien können über die Zytokinkaskade eine Aktivierung von Entzündungsprozessen auslösen und weisen laborchemisch häufig ein erhöhtes C-reaktives Protein (CRP) in Kombination mit normwertigen Leukozyten auf.
Die Diagnose kann mittels histopathologischer Aufarbeitung und dem Nachweis der entsprechenden Kristalle gesichert werden. Differenzialdiagnostisch sollte immer ein Infektgeschehen ausgeschlossen werden. Bei radiologischen Auffälligkeiten muss auch an ein malignes Geschehen gedacht werden oder an die deutlich seltenere tumorbildende Kalzinose [3], im deutschsprachigen Raum als Morbus Teutschländer (1935) bekannt. Diese führt zu massiven peri-artikulären Verkalkungen. In der Literatur wird die deutlich häufigere primäre Form (ohne Stoffwechselstörung) genannt, die sekundären Formen mit Störungen des Kalziumstoffwechsels werden beschrieben.
Aufgrund der radiologischen tumorösen Darstellung war in unserem Fall differenzialdiagnostisch ein Osteosarkom nicht ausgeschlossen.

Fallbericht

Anamnese

Die 65-jährige Patientin stellte sich nach hausärztlicher Zuweisung mit Verdacht auf Beugesehnenscheidenphlegmone auf dem Notfall unserer Klinik vor. Sie berichtete, seit fünf Tagen unter progredienten Schmerzen im rechten Unterarm zu leiden. Diese seien ohne ein erinnerliches Trauma aufgetreten. Auf Nachfrage fiel der Patientin als einziger möglicher Auslöser ihr Fitnesstraining ein. Der Schmerz habe nach Vierfüsslerstand über längere Zeit begonnen. In ihrer persönlichen Anamnese war lediglich eine medikamentös behandelte Schilddrüsenunterfunktion bekannt.

Status

Der distale rechte Unterarm wies innenseitig eine umschriebene Rötung (Abb. 1) mit lokaler Verhärtung der Weichteile auf. Lokal bestand dort eine leichte Druckdolenz. Der Faustschluss war schmerzbedingt nicht möglich, die Langfingerstreckung uneingeschränkt. Es bestand keine wesentliche Druckdolenz über dem Karpalkanal und auch sonst gab es keine Hinweise für ein akutes Karpaltunnelsyndrom bei Zustand nach Karpaltunnelspaltung vor rund zehn Jahren. Hinweise für eine Beugesehnenscheidenphlegmone oder eine verletzungsbedingte Eintrittspforte fanden sich ebenfalls nicht. Auch Lymphangitis, Fieber,  Schüttelfrost oder B-Symptomatik bestanden nicht.
Abbildung 1:
Klinischer Befund mit lokaler Rötung.

Laborchemische Befunde  und Bildgebung

Laborchemisch fiel ein erhöhtes CRP mit 60 mg/l bei normaler Leukozytenzahl von 10,3 G/l10⁹/l auf.
Wir führten ein Röntgenbild des rechten Handgelenkes  in zwei Ebenen (Abb. 2A/B) sowie  ein Computertomogramm  (Abb. 2C/D) durch. Dabei zeigte sich eine homogen milchglasartig ossifizierte Formation / heterotope Ossifikation von etwa 1,5 × 2,5 × 1,5 cm Grösse extra-ossär volarseitig der distalen Radiusepimetaphyse mit nahezu vollständig begrenzender Fettlamelle zum Radius ohne angrenzende Periostreaktion. Die Differenzialdiagnosen posttraumatisches Residuum (z.B. kalzifiziertes Hämatom/Ganglion),  Myositis ossificans oder (Osteo-)Sarkom waren vom Bildaspekt her wenig wahrscheinlich. 
Abbildung 2:
(A) Röntgenaufnahme des Handgelenks rechts dorso-palmar. Der rote Pfeil zeigt auf die tumoröse Neubildung. (B)  Röntgenbild des Handgelenks seitlich. Der rote Pfeil zeigt auf die tumoröse Neubildung.  (C) Computertomographie des Handgelenks rechts, sagittale Schicht. Der rote Pfeil zeigt auf die tumoröse Raumforderung am palmaren Aspekt des radiocarpalen Gelenks.  (D) Computertomographie des Handgelenks rechts, axiale Schicht. Der rote Pfeil zeigt auf die tumoröse Raumforderung am palmaren Aspekt des radiocarpalen Gelenks.

Therapie

Im Rahmen der ambulanten Beurteilung auf der Notfallstation wurde bei unklarer röntgendichter Raumforderung, erhöhtem CRP und normwertigen Leukozyten eine antiphlogistische Therapie mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und Ruhigstellung eingeleitet. Bei fehlenden Zeichen einer Beugesehnenscheidenphlegmone wurde auf eine antibiotische Therapie verzichtet.
Bei differenzialdiagnostisch nicht sicher auszuschliessender tumoröser Genese (insbesondere bildgebend) wurde Team-intern der Entscheid für ein zeitnahes operatives Vorgehen gefällt.
Der OP-Zugang wurde palmarseitig längsverlaufend angelegt,  radial der Flexor-carpi-radialis-Sehne (FCR-Sehne) mit Verlängerung des Hautschnittes über die Handgelenksbeugefalte im Sinne eines «extended carpal tunnel release».
Intraoperativ kam es zu einer Entleerung von trüblich-gelblicher Flüssigkeit mit weisslichen, festeren Anteilen. Die FCR-Sehne präsentierte sich nach ulnar verdrängt. Bei der Präparation auf den Pronator quadratus wirkte dieser entzündlich verändert mit multiplen weissen Auflagerungen, am ehesten im Sinne von Kalzifikationen. Begleitend zeigte sich eine Beugesehnenscheidensynovialitis der oberflächlichen sowie tiefen Fingerbeuger. Es erfolgte eine Erweiterung des Hautschnittes mit kompletter Spaltung des Karpalkanals sowie ein ausgiebiges Debridement. Die in der Bildgebung dargestellten ossären Veränderungen am distalen, palmaren Radius konnten nicht gefunden werden. Die palmare Kapsel wirkte lediglich gering verdickt. Bei fehlenden Kortikalisveränderungen und makroskopisch unauffälligem Knochen verzichteten wir auf die Entnahme von Knochenproben.  Intraoperativ wurden fünf Gewebeproben zur histopathologischen und mikrobiologischen Untersuchung entnommen. Es erfolgte eine ausgiebige Wundspülung. Im abschliessenden Röntgenbild konnte die röntgendichte Formation nicht mehr nachgewiesen werden (Abb. 3A/B). Die postoperative Ruhigstellung in einer Klettschiene erfolgte aus analgetischen Gründen.
Abbildung 3:
(A)  Postoperatives Röntgenbild des Handgelenks rechts anterior-posterior
(B)  Postoperatives Röntgenbild des Handgelenks rechts, seitlich.

Histopathologischer Befund und Diagnose

In der Histopathologie konnten in den Gewebeproben des Radiokcarpalgelenks eine chondroide Metaplasie sowie eine basische Apatit-Kalzinose nachgewiesen werden. In der Synovia und im Gewebe des Musculus pronator quadratus zeigte sich eine chronisch floride Entzündung ohne Nachweis von Malignität. Die mikrobiologischen Untersuchungen waren negativ.
Wir stellten daher die Diagnose  einer basischen Apatit-Kalzinose (HADD) mit chronischer Beugesehnensynovialitis  (Abb. 4A/B). Eine tumoröse Kalzinose  konnte in unserem Fall durch die Histopathologie nicht 100%ig ausgeschlossen werden, bei fehlenden Hinweisen intraoperativ sowie laborchemischem Ausschluss einer Kalziumstoffwechselstörung (wie bei den sekundären Formen des Morbus Teutschländer) erschien dies jedoch unwahrscheinlich.
Abbildung 4:
(A, B) HE-Färbung, Übersicht (2×) und Detail (100×) mit Psammomkörpern (rundliche Kugeln) und azellulärem Apatit.

Verlauf

Postoperativ zeigte sich ein komplikationsloser Verlauf. Die anfänglich bestandene Rötung und die Schmerzen am distalen Unterarm waren bereits nach wenigen Tagen komplett regredient, die Patientin beschwerdefrei.
Verlaufskontrollen wurden von der Patientin aufgrund der völligen Beschwerdefreiheit  nicht gewünscht.

Diskussion

Die Patientenanamnese in Kombination mit der klinischen und laborchemischen Konstellation waren typisch für eine Kristallarthropathie. Zu den häufigsten Kristallarthropathien zählen die CPPD (Chondrokalzinose) und die Apatit-Kalzinose, diee im angelsächsischen Sprachgebrauch eher unter HADD bekannt ist (Calcium hydroxyapatite depositional disease) [5]. Der bekannteste Vertreter ist die Gicht (Arthritis urica).
Die Apatit-Kalzinose wurde erstmal 1907 von Painter beschrieben. Heute werden vier unterschiedliche Erklärungsansätze diskutiert: a) degenerative Entstehung, b) reaktive und zellvermittelte Entstehung, c) Ablauf ähnlich einer endochondralen Ossifikation und d) Fehldifferenzierung von sehnenabgeleiteten Stammzellen [5].
Als prädisponierende Risikofaktoren für eine Apatit-Kalzinose gelten unter anderem Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkrankungen, Östrogenstoffwechselstörungen sowie genetische Faktoren wie ein HLA-A1-Genotyp [5].
Differenzialdiagnostisch muss bei Verdacht auf Apatit-Kalzinose an ein Trauma, an zusätzliche Normvarianten von akzessorischen Knochen sowie an eine Infektion oder einen Tumor gedacht werden.
Für die Diagnostik der Apatit-Kalzinose ist die konventionelle Röntgenabklärung die ideale Modalität, da die Verkalkung sich  klar abgegrenzt, homogen und amorph darstellt. Dieser überlegen ist einzig die Computertomografie, da mit ihr Kalzifikationen von Ossifikationen anhand der Hounsfield-Unit-(HU-)Werte unterschieden werden können. Kalzifikationen liegen meistens zwischen 100 und 400 HU, während Knochen Werte >700 HU aufweisen. Zusätzlich zeigt die Apatit-Kalzinose eine charakteristische «kometenschweifartige» Erscheinung.
In unserem Fall war die Bildgebung, insbesondere das Computertomogramm,  jedoch verdächtig auf eine tumoröse Veränderung, und ein Osteosarkom  letztlich nicht ausgeschlossen. Aufgrund dessen wurde der Entscheid für ein zeitnahes operatives Vorgehen gefällt.
Ob eine operative Behandlung wirklich notwendig war, ist schlussendlich nicht zu beantworten. Sicher kann in unserem Fall gesagt werden, dass die Patientin von der operativen Therapie sehr profitiert hat und schon wenige Tage nach der Operation beschwerdefrei  war.
Retrospektiv und nach Erhalt des histopathologischen Befunds kann gesagt werden, dass möglicherweise auch die Fortsetzung der konservativen Therapie mit Ruhigstellung, antiphlogistischen Massnahmen mit NSAR und gegebenenfalls die Einleitung einer Kortisonbehandlung ausreichend gewesen wären.
Typisch für die Apatit-Kalzinose lassen sich im synovialen Gewebe nicht doppelbrechende, feingranuläre bis psammomkörperartige (griech. «psammos»  für Sand) Kristallablagerungen mikroskopisch nachweisen (Abb. 4B). Als Psammomkörperchen werden kleine, rundliche, konzentrisch geschichtete Verkalkungen bezeichnet, die durch Zellnekrosen entstehen. Häufig finden sich diese bei bestimmten Tumorerkrankungen.
Bei der Tendinitis calcarea, der ebenfalls eine Apatit-Kalzinose zugrunde liegt, erfolgt häufig ein «Needling». Diese Behandlungsmethode stellte sich aufgrund der anatomischen Nähe zum Nervus medianus bei uns als eine nicht zu diskutierende Behandlung dar, um eine iatrogene Schädigung des Nervs zu vermeiden.
Während abschliessend weiterhin unklar bleibt, ob es sich um eine tumoröse Kalzinose handelt, erscheint dies  aus folgenden Gründen aber als eher unwahrscheinlich: Apatit-Ablagerungen verflüssigen und resorbieren sich laut Literatur innerhalb weniger Tage, seltener Wochen [4, 5], während bei der tumorösen Kalzinose ein «greifbarer Tumor» beschrieben wird und dieser auch entsprechend entfernt werden kann.
Genau diese Verflüssigung scheint in unserem Fall der 65-jährigen Patientin ohne weiteres Zutun eingetreten zu sein, da intraoperativ lediglich kleinere, festere, weissliche Bestandteile und vermehrt trüblich-gelbliche Flüssigkeit gefunden wurden. Eine festere Formation oder richtige Tumormasse (wie beim Morbus Teutschländer beschrieben) konnte nicht gefunden werden.
Histopathologisch konnte eine tumoröse Kalzinose zwar nicht zu 100% ausgeschlossen werden, jedoch erscheint sie eher unwahrscheinlich. Von Seiten der Blutuntersuchungen konnte keine Kalziumstoffwechselstörung nachgewiesen werden, wie sie zumindest bei der sekundären Form der tumorösen Kalzinose beschrieben wird, und die somit ausgeschlossen werden konnte.
Als Therapie einer tumorösen Kalzinose wird in der Literatur bei der primären Form die vollständige Exzision beschrieben. Beiunvollständiger Entfernung kann es zu Rezidiven kommen [6]. Bei der sekundären Form ist die Behandlung der zugrunde liegenden Stoffwechselstörung die Therapie der Wahl. Hingewiesen werden soll mit Darstellung dieses interessanten Falls, wie vielfältig sich eine Kristallarthropathie präsentieren kann und warum sie zu Recht auch als «Chamäleon» bezeichnet wird.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Die Apatit-Kalzinose (HADD) stellt neben der Chondrokalzinose (CPPD) die häufigste Kristallarthropathie dar.
  • Das klinische und radiologische Bild kann sehr vielfältig sein und dementsprechend fehlinterpretiert werden.
  • Beim Ausschluss eines malignen Geschehens kann eine konservative Therapie mit NSAR und/oder Kortison erfolgversprechend sein, gegebenenfalls kann ein Needling je nach anatomischer Lage erwogen werden.
  • Die Kristallanalyse ist hilfreich für die Diagnosesicherung.
  • Um eine tumoröse Kalzinose (Morbus Teutschländer) bestätigen zu können, benötigt es eine «wirkliche» Tumorformation intraoperativ und die passende Histopathologie.
Die Autoren danken Herrn Dr. med. Jürgen Ederer vom Institut für Radiologie und Nuklearmedizin des Kantonsspitals Baselland für die radiologische Diagnose und Bildgebung, sowie Herrn Till Daun vom Institut für Pathologie für die histopathologische Befundung und Bereitstellung des Bildmaterials.
Die Autoren haben deklariert, keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag zu haben.
Sabine Kohl
Kantonsspital Baselland
Standort Bruderholz
Klinik für Orthopädie/Handchirurgie
CH-4101 Bruderholz
Sabine.Kohl[at]ksbl.ch
1 . Chondrokalzinosen und sonstige Kristallarthropathien. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date.2016;11(4):285–301.
2. . Kalziumpyrophosphat-Kristallarthropathie. Swiss Med Forum. 2002;39:914–21. 
3. . Über progressive Lipogranulomatose der Muskulatur. Klin Wochenschr. 1935;14(13):451–3. http://dx.doi.org/   
4.  Misleading clinical aspects of hydroxyapatite deposits: a series of 15 cases. . J Rheumatol. 1997;24:531–5353.
5. . Calcium hydroxyapatite deposition disease: imaging features and presentations mimicking other pathologies. Eur J Radiol. 2019 Nov;120:108653. http://dx.doi.org/ PubMed
6. . Tumoral calcinosis: what is the treatment? Report of two cases of different types and review of the literature. Am J Orthop. 2011 Sep;40(9):E170–6. PubMed