Akute Beinschmerzen mit bläulichen Zehen - Was steckt dahinter?

Akute Beinschmerzen mit bläulichen Zehen - Was steckt dahinter?

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08850
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Ein bisher gesunder, sehr sportlicher 57-jähriger Mann stellte sich wegen plötzlich aufgetretener nächtlicher Ruheschmerzen des rechten Beines und Kribbeln in der Fusssohle sowie einer lividen Verfärbung der Zehen seit dem Vortag in der hausärztlichen Praxis vor.

Hintergrund

Phäochromozytom
Die akute Extremitätenischämie ist definiert als eine plötzlich herabgesetzte arterielle Perfusion einer Gliedmasse, welche eine vitale Bedrohung für die ­Extremität und die Patient/innen bedeutet und somit ein medizinischer Notfall ist. Die Inzidenz der akuten Beinischämie beträgt ungefähr 1,5/10 000 Personen pro Jahr. Die Komplikationen sind trotz prompter ­Revaskularisation hoch, die Amputationsrate liegt ­zwischen 10 und 15%. Eine akute Perfusionsstörung entsteht in den meisten Fällen durch eine arterielle Embolie. Weitere Ursachen sind arterielle In-situ-Thrombosen im Rahmen der Progression eines kalzifizierenden Gefässwandprozesses (progressive Plaquebildung), Thrombosierung eines Poplitealaneurysmas oder ein Trauma [1]. Eine arterielle Embolie entsteht häufig kardial (unter anderem atriale Arrhythmie, intrakardialer Thrombus, dilatative Kardiomyopathie, Vorhofseptumdefekt (mit signifikantem Rechts-Links-Shunt) oder ist durch eine Hyperkoagulabilität (aktive Neoplasie, Thrombophilie) bedingt. Bei einer Minderheit der Patient/innen bleibt die Ätiologie der Beinischämie ungeklärt (bei fehlenden kardiovaskulären Risikofaktoren oder fehlendem Nachweis einer Emboliequelle) [2]. 

Fallbericht

Anamnese

Ein bisher gesunder, sehr sportlicher 57-jähriger Mann stellte sich wegen plötzlich aufgetretener nächtlicher Ruheschmerzen des rechten Beines und Kribbeln in der Fusssohle sowie einer lividen Verfärbung der ­Zehen seit dem Vortag in der hausärztlichen Praxis vor. Bei nicht tastbaren Fusspulsen rechts und ver­zögerter akraler Rekapillarisationszeit erfolgte eine notfallmässige Zuweisung in unser Notfallzentrum und es wurden 5000 Einheiten niedermolekulares ­Heparin subkutan verabreicht. Zuvor hatten keinerlei Beschwerden im rechten Bein, auch nicht unter starker Belastung bestanden. Im Übrigen war ein Leistungsknick in den letzten vier Monaten vor der Vorstellung zu eruieren. Ein vormaliger Nikotinkonsum war vor 15 Jahren sistiert worden (kumulativ 40 pack years). Bis auf eine Verletzung des linken Daumengrundgelenks und der rechten Schulter infolge Skistürze war die persönliche Anamnese bland.

Befunde und Diagnose

Bei der klinischen Untersuchung präsentierte sich ein hämodynamisch stabiler Patient mit suffizienter ­Oxygenierung (Blutdruck 127/74 mm Hg, Sauerstoff­sättigung unter Raumluft 92%). Der rechte Fuss war deutlich kälter im Seitenvergleich. Die rechten Zehen waren livid verfärbt und es bestand eine reduzierte Berührungsempfindung als Ausdruck eines beginnenden sensorischen Defizits. Eine motorische Störung lag nicht vor.
Elektrokardiografisch zeigte sich ein normokarder ­Sinusrhythmus (Herzfrequenz 63/min). Das Routine­labor (Blutbild, Kreatinin und Elektrolyte) war bis auf eine diskret erhöhte Leukozytenzahl normal.
Aufgrund der milden sensorischen Störung bestand keine unmittelbare vitale Bedrohung der Extremität. Demzufolge führten wir vorerst zur Planung der weiteren therapeutischen Massnahmen eine Segment­oszillografie mit Dopplerdruckmessung und Duplexsonografie der Beinarterien durch. Der Blutfluss konnte mit der Dopplersonde über der Arteria dorsalis pedis (ADP) und Arteria tibilais posterior (ATP) rechts nicht detektiert werden, somit war eine Bestimmung des Knöchel-Arm-Indexes (ABI) nicht ­möglich. Der Zehendruck war ebenfalls nicht messbar. Oszillografisch zeigten sich anarchische Puls­volumenkurven ab dem distalen Unterschenkel als Hinweis auf eine popliteo-crurale Obstruktion. Duplexsonografisch konnte ein am ehesten embolischer Verschluss der distalen rechten Arteria (A.) poplitea ohne Zeichen einer Arteriosklerose nachgewiesen werden. Aneurysmatische Degenerationen im Bereich der Aorta abdominalis und der rechten Bein­arterien konnten sonografisch ausgeschlossen werden. Aufgrund dieser Befunde konnte eine akute Extremitätenischämie bei Verschluss der rechten A. poplitea objektiviert werden.

Therapie und Verlauf

Nach interdisziplinärer Besprechung zwischen Angiologie, Gefässchirurgie und interventioneller Radiologie sowie gemäss internationalen Leitlinien wurde aufgrund der Verschlusslokalisation (distale A. poplitea, geringe Thrombuslast) die Indikation zur Angiografie und kathetertechnischen Revaskularisation ­gestellt. In der Übersichtsangiografie liess sich ein Verschluss der rechten A. poplitea mit Hinweisen auf periphere Embolisation erkennen (Abb. 1 A). Nach mehr­facher Thrombusaspiration zeigten sich residuelle Thromben in den distalen Unterschenkelarterien, sodass eine intraarterielle Lyse mit Alteplase begonnen und der Patient auf die Intensivstation verlegt wurde. Zudem etablierten wir eine therapeutische Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin. Am Folgetag, nach 24-Stunden-Lyse mit einer Dosis von 0,75 mg/h, fand eine Kontrollangiografie des rechten Beines statt. Es erfolgte eine erneute Aspiration aufgrund weiterer Thrombenbildung im Bereich der A. femoralis superficialis und A. poplitea, zudem die Gabe von lokaler Lyse (5 mg Bolus). Ein persistierender Verschluss der ATP wurde mit Ballondilatation behandelt. Die ADP konnte nicht rekanalisiert werden. Insgesamt zeigte sich ein gutes Ergebnis in der Abschlussangiografie (Abb. 1 B). Anschliessend fand sich klinisch und oszillografisch eine bis zum Vorfuss normalisierte, im Bereich der rechten Grosszehe eingeschränkte, aber nicht kritische arterielle Ruheperfusion (ABI 1,2, Zehendruck 35 mm Hg, ABI normal >0,90, kritischer Zehendruck <30 mm Hg, gemäss ESC-Guidelines 2017).
Abbildung 1:
A) Das erste Angiogramm zeigt einen Abbruch der Kontrastierung auf Höhe der distalen A. poplitea und somit fehlende Darstellung der Unterschenkelarterien. B) Kontrollangiogramm nach 24-Stunden-Lysetherapie. Normale Kontrastierung der A. poplitea und der proximalen Unterschenkelarterien.
In der transthorakalen Echokardiografie fand sich kein intrakardialer Thrombus oder Hinweis auf einen Atriumseptumdefekt. Die linksventrikuläre Auswurffraktion war normal. Auf der Intensivstation bestand stets ein normokarder Sinusrhythmus. Auch im Langzeit-EKG ergab sich ein unauffälliger Befund. Das kardiovaskuläre Risikoprofil haben wir als niedrig gewertet (LDL-Cholesterin 2,71 mmol/l, Triglyzeride 1,25 mmol/l, vor 15 Jahren sistierter Nikotinkonsum, keine arterielle Hypertonie, duplexsonografisch und computertomografisch keine Arteriosklerose). Im Rahmen der weiteren Ursachenabklärung erfolgte eine Abdomensonografie. Hier fand sich eine unklare retroperitoneale Raumforderung (Abb. 2 A). Das prostataspezifische ­Antigen (PSA) war normal. Computertomografisch zeigten sich keine suspekten Lungenherde, aber ein Nebennieren-Inzidentalom rechts (Abb. 2 B). Vor fünf Jahren ergab sich in einer Gastro- und Ileokoloskopie kein Hinweis auf Malignität. Am Tag 5 konnte der ­Patient mit therapeutischer Antikoagulation (Rivaroxaban 20 mg einmal täglich) nach Hause entlassen werden. Die weitere Diagnostik fand im ambulanten Setting statt.
Abbildung 2:
A) Abdomensonografie, Flankenschnitt rechts: Raumforderung retroperitoneal 4,1 × 4,3 cm (Pfeil).  B) Computertomografie des Abdomens, axiale Rekonstruktion: inhomogene Raumforderung in der rechten Nebenniere (4,6 × 4,3 × 4,3 cm) (Pfeil).
Die endokrinologischen Abklärungen bezüglich der hormonellen Aktivität des Nebennieren-Inzidentaloms lieferten die Diagnose eines Phäochromozytoms mit erhöhtem freiem Metanephrin und Normetanephrin. Es konnte anamnestisch kein relevanter Katecholaminexzess eruiert werden. Vier Wochen nach der ­Spitalentlassung und vorgängiger Alphablockade mit Phenoxybenzamin erfolgte eine laparoskopische Adrenalektomie rechts. Histologisch wurde die Diagnose des Phäochromozytoms bestätigt.
Acht Wochen nach der Revaskularisation zeigte sich erfreulicherweise eine fast vollständige Normalisierung der arteriellen Perfusion der rechten unteren Extremität (ABI 1,4, Zehendruck 90 mm Hg). Die rechten Beinarterien sind bis auf die ADP sonografisch frei durchgängig. Der Patient ist beschwerdefrei. Die therapeutische Antikoagulation mit Rivaroxaban wird zunächst weitergeführt.

Diskussion

Eine im Rahmen eines Phäochromozytoms auftretende akute Beinischämie ist selten. Die Diagnose dieses Katecholamin-produzierenden Tumors stellt eine besondere Herausforderung dar. Die klassische Symptomentriade besteht aus Palpitation, Kopfschmerzen und Schwitzen. Obwohl diese Symptome nicht immer auftreten, findet sich eine paroxysmale Hypertonie ungefähr in 50% der Fälle. Die vermehrte Katecholamin-Produktion und die daraus resultierende Hypertonie ist für die bekannten Komplikationen wie eine hypertensive Krise, eine Kardiomyopathie und ein ­Papillenödem verantwortlich.
Eine Assoziation zwischen einem Phäochromozytom und dem Auftreten von systemischen oder intra­kardialen Thromben ist in der Fachliteratur beschrieben. In den 28 bisher publizierten Fällen fanden sich fast bei der Hälfte eine Thrombose der Vena cava inferior meist infolge einer direkten Tumorkompression. Bei 8 Patient/innen wurde ein intrakardialer Thrombus nachgewiesen. Bei 78% der Patient/innen trat das erste thromboembolische Ereignis zeitlich zusammen mit der Diagnose des Tumors auf. Kaiser et al. berichtet über eine Patientin mit akuter Armischämie bei nicht reseziertem Phäochromozytom [3]. Mederos et al. beschrieb einen unserem sehr ähnlichen Fall mit Beinischämie und neu diagnostiziertem Vorhofflimmern bei zugrundeliegendem Phäochromozytom [4]. Wie in unserem Fall wurde eine kardioembolische Ursache vermutet, obwohl der intrakardiale Thrombus in der transthorakalen Echokardiografie nicht nachgewiesen werden konnte.
Ferner wird auch eine milde Hyperkoagulabilität durch Aktivierung der intrinsischen Gerinnungskaskade bei Katecholaminexzess postuliert [5]. Bekannt ist ausserdem, dass Adrenalin und Noradrenalin eine gesteigerte Thrombozytenaggregation hervorrufen. Es wurde in einer Studie eine Reduktion des Ad­häsionsvermögens der Thrombozyten nach Entfernung des Phäochromozytoms nachgewiesen. Inwiefern eine erhöhte Thrombozytenadhäsion klinisch relevant ist, ist nicht bekannt. Andererseits wird beim Phäochromozytom eine Hyperzirkulation beschrieben, welche einer Thrombusbildung entgegenwirken würde [6].
Bei diesem oben dargestelltem Fall vermuten wir als Ursache des atypischen embolischen Verschlusses der A. poplitea auch aufgrund des Fehlens von bisherigen thromboembolischen Ereignissen eine kardiale Emboliequelle infolge einer stillen Vorhofflimmernepisode getriggert durch das Phäochromozytom. Bei unserem Patienten war das 72-Stunden-EKG-Monitoring unauffällig. Daher ergab sich bei niedrigem Vorhofflimmer-Risiko keine Indikation für ein erweitertes EKG-Monitoring. Zur Vervollständigung der Diagnostik führten wir bei niedrigem kardiovaskulärem Risikoprofil eine Gerinnungsabklärung durch, die eine heterozygote Faktor-V-Leiden-Mutation aufdeckte. Diese werten wir bei unserem Fall jedoch lediglich als begünstigenden Kofaktor. Daher und auch unter der Annahme, dass durch die operative Entfernung des Phäochromozytoms, der Triggerfaktor endgültig eliminiert wurde, kann die therapeutische Antikoagulation nach sechs Monaten sistiert werden. Die vorgesehene Therapie­dauer richtete sich in unserem Fall nach den bis­herigen Erfahrungen unserer Klinik und wurde in ­Absprache mit den Hämatologen gestellt. Für eine ­Sekundärprophylaxe (Acetylsalicylsäure und Statin) sehen wir bei fehlender Arteriosklerosemanifestation aktuell keine Indikation.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Eine umgehende Diagnostik und Therapie der akuten Extremitäten­schämie ist für das Überleben des Beines entscheidend.
  • Die kardioembolische Genese der akuten Beinischämie spielt eine ­wesentliche Rolle. Bei Patient/innen ohne kardiale Vorerkrankung oder Risikofaktoren bleibt die Ursache der Embolie manchmal unentdeckt. In diesen speziellen Fällen ist eine umfangreiche Abklärung bezüglich seltener Differenzialdiagnosen besonders wichtig.
  • Das Phäochromozytom bleibt weiterhin eine äusserste seltene Ursache der akuten Extremitätenischämie.
  • Nach erfolgreicher Revaskularisation richtet sich die Therapie und Verhinderung einer erneuten akuten Ischämie vordergründig nach der Ätiologie. Bei embolischer Genese ist eine therapeutische Antikoagulation die Therapie der Wahl. Bei thrombotischem Verschluss auf dem Boden einer Arteriosklerose ist eine Sekundärprophylaxe mit Acetylsalicylsäure 100 mg und einem Statin indiziert.
  • Die Therapiedauer der Antikoagulation sollte auf individueller Basis ­unter Berücksichtigung des Blutungsrisikos und in Abhängigkeit der Genese und des geschätzten Rezidivrisikos einer erneuten Ischämie ­entschieden werden.
Die Autor/innen haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Lili Sike
c/o dr. med. Marianne ­Beckmann
Luzerner Kantonsspital
Angiologie
Spitalstrasse
CH–6000 Luzern
lili.sike@gmail.com
1 Olinic DM, Stanek A, Tătaru DA, Homorodean C, Olinic M. Acute Limb Ischemia: An Update on Diagnosis and Management. J Clin Med. 2019;8(8):1215.
2 Mart D, Shatzel J, DeLoughery T. Cryptogenic acute limb ischemia: a retrospective cohort study defining a previously undescribed clinical entity. J Thromb Thrombolysis. 2018;45(3):397–402.
3 Kaiser S, Chronakos J, Dietzek AM. Acute upper extremity arterial thrombosis and stroke in an unresected pheochromocytoma. J Vasc Surg 2013;58:1069–72.
4 Mederos MA, Orr LE, Livhits MJ, Rigberg DA. Management of acute limb ischemia related to underlying pheochromocytoma. J Vasc Surg Cases Innov Tech. 2020;6(2):272–276.
5 Squizzato A, Van Zaane B, Gerdes VE, Büller HR. The influence of pituitary, adrenal, and parathyroid hormones on hemostasis and thrombosis. Semin Thromb Hemost. 2011;37(1):41–8.
6 Danta G. Pre‐ and postoperative platelet adhesiveness in pheochromocytoma. Thromb Diath Haemorrh. 1970;23(1):189–90.