Das Language-Switch-Syndrom: ein (vorerst) deutsch-schweizerisches Delir-Screening

Das Language-Switch-Syndrom: ein (vorerst) deutsch-schweizerisches Delir-Screening

Fallberichte Online
Ausgabe
2022/00
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.08862
Swiss Med Forum. 2022;22(00):

Publiziert am 01.01.2022

Bei der 77-jährigen Patientin wurde aufgrund einer Femurkopfnekrose rechts eine Hüft-Totalprothese implantiert. Ein implantatassoziierter Frühinfekt machte einen Prothesenwechsel sowie mehrmalige Wundrevisionen erforderlich.

Hintergrund

Das Language-Switch-Syndrom
Die Prävalenz eines Delirs bei älteren Menschen ist hoch. Insbesondere postoperativ kann es bei 15 bis 53% der älteren Patientinnen und Patienten auftreten. Ein Delir ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine belastende Erfahrung und führt neben einer längeren Hospitalisationsdauer und einem erhöhten Pflegeaufwand auch zu langfristigen negativen Gesundheitsfolgen wie einer Zunahme der Mortalität oder einem ­erhöhten Demenzrisiko [1, 2]. Trotz Verwendung verschiedener spezifischer Screening-Instrumente ist das Delir unterdiagnostiziert. Besonders die Diagnose ­eines hypoaktiven Delirs stellt eine grosse Herausforderung dar.

Fallbericht

Anamnese und Befunde

Bei der 77-jährigen Patientin wurde aufgrund einer ­Femurkopfnekrose rechts eine Hüft-Totalprothese implantiert. Ein implantatassoziierter Frühinfekt machte einen Prothesenwechsel sowie mehrmalige Wundrevisionen erforderlich. Die antibiotische Therapie umfasste unter anderem die hochdosierte Gabe von Piperacillin/Tazobactam.
Aus der persönlichen Anamnese war bekannt, dass die Patientin an rezidivierenden depressiven Episoden, teils mit psychotischen Symptomen, litt. Während ­eines vorgängigen stationären Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik hatte die Patientin in der Kognitionsabklärung im Mini-Mental-Status-Test (MMST) 29 von 30 Punkten und im Uhrentest 4 von 5 Punkten erzielt. In einer zerebralen Bildgebung fanden sich bei Status nach Meningeomoperation vor 30 Jahren neben dem vorbekannten Hirnparenchymdefekt frontal rechts Hinweise für ein kleineres Rezidiv des Meningeoms parietal paramedian links.

Verlauf

Während der Hospitalisation kam es unter Medikation mit Escitalopram, Quetiapin, Droperidol, Granisetron und Metoclopramid zu einer Verlängerung der QTc-Zeit (595 ms). Dies führte bei gleichzeitiger Hypokaliämie zu einer Torsade-de-Pointes-Tachykardie. Bei Kammerflimmern musste schliesslich eine mechanische Reanimation mit Defibrillation durchgeführt werden. Diese verlief erfolgreich, hatte jedoch Sternum- und Rippenserienfrakturen zur Folge. Im Verlauf wurden die das Kammerflimmern auslösenden Medikamente sistiert und zusätzlich zur Korrektur der ­Hypokaliämie eine hoch dosierte Magnesiumsubstitution eingeleitet.
Am 61. postoperativen Tag wurde wegen zunehmender Somnolenz eine geriatrische Mitbeurteilung erbeten. Die Patientin präsentierte sich in einem deutlich reduzierten Allgemeinzustand, war afebril, hyperton und normokard mit einer Sauerstoffsättigung von 93%. ­Laborchemisch imponierten eine normochrome, normozytäre Anämie mit einem Hämoglobin von 80 g/l (Norm: 118–158 g/l), eine Thrombozytose von 586 G/l (Norm: 150–370 G/l) sowie ein leicht erhöhtes C-reaktives Protein (CRP) von 12 mg/l (Norm: <5 mg/l). Die Elektrolyte lagen im Normbereich. Enoral zeigten sich ­trockene Schleimhäute, die kollabierten Halsvenen wiesen auf eine Dehydratation hin. Das Abdomen war insgesamt weich, bei spärlichen Darmgeräuschen. Die Wunde war reizlos und trocken.

Weitere Diagnostik

In der neurologischen Untersuchung zeigten sich diskret sakkadierte Augenfolgebewegungen, jedoch kein Meningismus. Der Finger-Nase-Versuch war verlangsamt. Die Kraftprüfung war, abgesehen von einer Kraftminderung des linken Beines, die als schmerz­bedingt beurteilt wurde, unauffällig. Es ergaben sich keine Hinweise für Spastik, Tremor oder Rigor. Während des Gesprächs nickte die Patientin wiederholt ein. Zeitlich und örtlich war sie desorientiert und in der Aufmerksamkeit eingeschränkt. Das Rückwärtsbenennen von Monaten gelang ihr nicht. Es lag eine formale Denkstörung vor. Einfache Aufforderungen konnte die Patientin verlangsamt ausführen. Bemerkenswerterweise drückte sich die sonst schweizerdeutsch sprechende Patientin in hochdeutscher Sprache aus.
Des Weiteren wurde eine SARS-CoV-2-Infektion ausgeschlossen. Bei vorbestehender antiepileptischer Prophylaxe mit Orfiril wurde zum Ausschluss einer Überdosierung der Medikamentenspiegel überprüft, wobei sich tiefnormale Werte ergaben. Im Elektroenzephalogramm (EEG) zeigte sich eine normale Grundaktivität ohne epilepsietypische Potenziale, jedoch ein Verlangsamungsherd frontotemporal rechts.

Diagnose und differenzialdiagnostische ­Überlegungen

Klinisch standen eine deutliche Aufmerksamkeitsstörung, eine fluktuierende Vigilanzstörung und eine ­psychomotorische Verlangsamung im Vordergrund – passend zu einem hypoaktiven Delir. Bezüglich der Prädisposition fand sich neben dem Alter der Patientin vor allem die vorbekannte Depression. Als auslösende Faktoren identifizierten wir neben der Polypharmazie den liegenden Blasenkatheter sowie Schmerzen, eine Obstipation, eine Anämie, die Immobilisation, der stattgehabte Infekt sowie eine Hörminderung. Differenzialdiagnostisch wäre eine erneute depressive Episode denkbar gewesen, allerdings sind fluktuierende Viglianzstörungen untypisch für eine depressive Episode. Gegen eine hypoxische Enzephalopathie nach Reanimation sprach der Verlauf. Eine Lewy-Body-Erkrankung erschien unwahrscheinlich aufgrund des akuten Auftretens sowie der fehlenden, jedoch für die Diagnose nicht obligaten extrapyramidalen Symptomatik.

Therapie und weiterer Verlauf

Nach Korrektur der oben genannten Faktoren (Medikamentenanpassung, Schmerzbehandlung, Entfernung Blasenkatheter, Mobilisation und Therapie der Obstipation) war die Patientin nach wenigen Tagen deutlich wacher, aufmerksamer und besser mobilisierbar und sie sprach wieder durchwegs Mundart mit ihrem Ehemann und der Zimmernachbarin. Die Erholung liess sich eindrücklich auch in der SMS-Kommunikation zwischen den Ehepartnern erkennen (Abb. 1).
Abbildung 1:
SMS-Kommunikation der Patientin (schwarz unterlegt) mit ihrem Ehemann (grün unterlegt)
Die abgebildeten Screenshots (A) und (B) bilden den Verlauf während des Delirs ab. Die schriftliche Kommunikation zeigt eindrücklich, wie verloren die Patienten während des Delirs war. Es erfolgten verschiedene therapeutische Massnahmen zur Behandlung des multifaktoriellen Delirs. Die Screenshots (C) und (D) des Folgetages zeigen die Kommunikation nach Einleitung der Therapie.

Diskussion

Für die Diagnosestellung eines Delirs kann ein Sprachwechsel von Mundart zu Schriftsprache ein subtiles klinisches Diagnostikum sein.
Wir schlagen vor, dieses Phänomen als «Language-Switch-Syndrom» (LSS) zu bezeichnen. Das LSS – ein vollständig reversibler Sprachwechsel von nativ schweizerdeutsch sprechenden Personen zur Schriftsprache – wurde von den Autoren wiederholt beobachtet und in diesem Fallbericht nun erstmalig beschrieben.
Das LSS kann durch die fast schlagartige Erholung nach Einleiten der Delirtherapie von einer Aphasie des Mehrsprachigen (polyglotte Aphasie) oder von einem «foreign accent syndrome» abgegrenzt werden [3–4]. Die Aphasie als Folge zerebraler Läsionen in den linkshemisphärischen Sprachregionen kann bei Mehrsprachigen aufgrund einer topografisch unterschiedlichen kortikalen und subkortikalen Sprachrepräsentation zu verschiedenartigen Ausprägungen und einer langwierigen Erholungsphase bezüglich der bisher erlernten Sprachen führen [5]. Das «foreign accent syndrome» hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass die Betroffenen im Anschluss an eine zentrale Läsion – häufig ­einen Schlaganfall – passager mit einem ihnen nicht geläufigen Akzent sprechen, beispielsweise Engländer, die einen italienischen oder amerikanischen Akzent aufweisen. Auffallend ist dabei vor allem die veränderte Sprachmelodie. Die Läsionen beim «foreign accent syndrome» finden sich typischerweise im Bereich des primären motorischen Kortex, des prämotorischen Kortex oder im Bereich der Basalganglien oder des Pons [6]. Es besteht die Annahme, dass die Symptomatik Ausdruck einer planerischen und motorischen Funktionsstörung in der Artikulation ist.
Bei der Beobachtung von LSS-Betroffenen ist bemerkenswert, dass sie häufig auch dann weiter in Schriftsprache kommunizieren, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie wie gewohnt Mundart sprechen können. Selbstverständlich kann dieses Phänomen nur dann im klinischen Kontext verwertet werden, wenn das Betreuungsteam schweizerdeutsch mit den Erkrankten kommuniziert.
Die schweizerdeutschen Dialekte unterscheiden sich wesentlich von der deutschen Schriftsprache. So kennen die verschiedenen schweizerdeutschen Dialekte (es gibt nicht EIN Schweizerdeutsch) nur drei verschiedene Zeitformen und sie unterscheiden sich in Vokabular und Syntax zum Teil wesentlich von der Schriftsprache. Während in der deutschsprachigen Schweiz im schriftlichen Verkehr und den öffentlich-rechtlichen Medien fast ausschliesslich die hochdeutsche Sprache (Amtssprache) verwendet wird, wird umgangssprachlich der jeweilige Dialekt verwendet. Bei Textnachrichten (SMS, WhatsApp etc.) werden je nach Vertrautheit Nachrichten in Mundart oder Schriftsprache ausgetauscht.
Das Sprechen in Hochdeutsch ist für viele Schweizerdeutsch sprechende Menschen mit einer Anstrengung verbunden. Umso erstaunlicher ist es, dass die Schriftsprache während eines Delirs von den Erkrankten vorübergehend auch für die mündliche Kommunikation verwendet wird. Es ist vorstellbar, dass es sich dabei um eine höhere frontale Kompensationstrategie handelt, mit dem unbewussten Ziel der desorientierten ­Betroffenen, sich «offiziell» Gehör und Ordnung zu ­verschaffen. Ob das Phänomen des LSS nur in der Deutschschweiz zu beobachten ist, kann vorerst nicht abschliessend geklärt werden. In der Literatur finden sich für andere Sprachregionen keine Beschreibungen solcher passageren Sprachveränderungen bei Delir. In einem nächsten Schritt soll daher eine Fallserie erstellt werden. Gerne nehmen wir hierfür unter der Korrespondenzadresse entsprechende Beobachtungen anderer Kolleginnen und Kollegen entgegen.

Das Wichtigste für die Praxis

  • Das Erkennen eines Delirs stellt eine grosse klinische Herausforderung dar. Nicht nur der fluktuierende Verlauf, die Aufmerksamkeitsstörung und Vigilanzminderung, sondern auch Veränderungen in der Sprache und Kommunikation können auf ein Delir hinweisen.
  • Neben Veränderungen des Sprachverständnisses und der expressiven Sprache kann in der deutschsprachigen Schweiz auch ein passagerer Wechsel von Mundart auf Hochdeutsch («Language-Switch-Syndrome», LSS) ein Indikator für ein Delir sein. 
  • Die Sprachstörung im LSS verläuft passager – die rasche Erholung (anders als bei der Aphasie) und die Rückkehr zur Kommunikation in Mundart dürfen als günstiges Prognostikum für die Genesung gewertet werden.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Tatjana Meyer-Heim
Universitäre Klinik für Altersmedizin
Stadtspital Zürich, Waid
Tièchestrasse 99
CH–8037 Zürich
Tatjana.meyer-heim[at]waid.zuerich.ch
1. . Delirium. In: Hazzard WR, Blass JP, Halter JB, Ouslander JG, Tinetti ME, Hrsg. Principles of geriatric medicine and gerontology. 5th ed. New York: McGraw-Hill Professional; 2003. p. 1503–15.
2. . Delirium in elderly patients and the risk of postdischarge mortality, institutionalization, and dementia: a meta-analysis. JAMA. 2010 Jul;304(4):443–51. http://dx.doi.org/3 PubMed
3. . Paradoxical switching to a barely-mastered second language by an aphasic patient. Neurocase. 2007 Jun;13(3):209–13. http://dx.doi.org/ PubMed
4. . Neurological aspects of foreign accent syndrome in stroke patients. J Commun Disord. 2019 Jan - Feb;77:94–113. http://dx.doi.org/  PubMed
5. . Ten years after the stroke: me talk slightly less funny. Engl Today. 2018;34(2):35–8. http://dx.doi.org/ 
6. . Perception of foreign accent syndrome speech and its relation to segmental characteristics. Clin Linguist Phon. 2011 Feb;25(2):85–120. http://dx.doi.org/  PubMed