Ulkus an der Zunge
Riesenzellarteriitis

Ulkus an der Zunge

Coup d’œil
Ausgabe
2022/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09029
Swiss Med Forum. 2022;22(38):634-635

Affiliations
Service d’otorhinolaryngologie et chirurgie cervico-faciale, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne

Publiziert am 21.09.2022

Eine 76-jährige Patientin sucht die Notfallabteilung aufgrund intermittierender, bilateraler Kopfschmerzen im Bereich der Schläfen sowie eines schmerzhaften Ulkus am rechten Zungenrand auf.

Fallbeschreibung

Eine 76-jährige Patientin mit bekanntem Typ-II-Diabetes und behandelter arterieller Hypertonie, Nichtraucherin und ohne erhöhten Alkoholkonsum, sucht die Notfallabteilung auf, da sie seit zwei Wochen an intermittierenden, bilateralen Kopfschmerzen im Bereich der Schläfen mit Tinnitus und Schulterschmerzen leidet. Ausserdem gibt sie an, dass fünf Tage zuvor ein schmerzhaftes Ulkus am rechten Zungenrand aufgetreten und die Zunge insgesamt bläulich sei (Abb. 1).
Abbildung 1: Bläuliche Zunge mit Ulkus am rechten Rand.
Der paraklinische Initialbefund zeigt einen CRP-Wert von 230 mg/l (normal <10), eine Leukozytose (17 G/l, normal 4–10) und eine Sedimentationsgeschwindigkeit von 62 mm/h (normal <20).
Die Differentialdiagnose umfasst ein neoplastisches Ulkus, eine infektiöse (Bakterien, Viren, Pilze) oder entzündliche Ursache. Eine bläuliche Schwellung kann ebenso durch ein Hämatom oder eine venöse Kongestion bedingt sein.
Mittels CT-Angiographie wird eine Jugularvenenthrombose ausgeschlossen, allerdings finden sich Unregelmässigkeiten an den Ästen der Arteriae carotides externae beidseits, vor allem aber rechts, wobei insbesondere Unregelmässigkeiten an den beiden Temporalarterien und ein Verschluss der beiden Zungenarterien (rechts stärker proximal) festzustellen sind (Abb. 2). Durch diese Untersuchung wird auch eine Aortenläsion ausgeschlossen.
Abbildung 2: Zervikale CT-Angiographie, Axialschnitt: Unregelmässigkeiten der Zungenarterien beidseits (blaue Pfeile).
Die sonographische Untersuchung der Temporalarterien ergibt auf beiden Seiten ein Halo-Zeichen, eine Temporalarterienbiopsie bestätigt die Diagnose Riesenzellarteriitis oder Morbus Horton. Der ophthalmologische Befund ist normal. Die Patientin wird mit hoch dosierten Glukokortikoiden behandelt. Ungeachtet dessen breitet sich die Zungennekrose jedoch aus, weshalb ein chirurgisches Débridement der nekrotischen Bereiche nötig wird (Abb. 3).
Abbildung 3: Ausbreitung der Zungennekrose mit Unfähigkeit zur Protrusion.
In der Folge ist die orale Phase des Schluckvorgangs beeinträchtigt und es kommt zu einer Dysphagie. Um den Nährstoffbedarf der Patientin zu decken, ist initial eine enterale Zusatzernährung über eine transnasale Magensonde nötig. Eine Dysarthrie infolge der verringerten Zungenmobilität bleibt langfristig bestehen.

Diskussion

Die Riesenzellarteriitis ist eine systemische Vaskulitis der gross- und mittelkalibrigen Arterien, die vor allem die extrakraniellen Äste der Arteriae carotis interna und externa betrifft. Auch wenn sie die häufigste Vaskulitis-Form ist – besonders bei über 50-Jährigen –, kann die Diagnose im Falle eines atypischen klinischen Bilds verzögert sein [1]. Um irreversible ischämische Komplikationen wie etwa Erblindung zu vermeiden, muss unverzüglich eine Glukokortikoid-Behandlung begonnen werden. Der Zungeninfarkt ist als seltene und frühe Manifestation der Riesenzellarteriitis bekannt; er führt zum irreversiblen Verlust des nekrotischen Muskels [2, 3]. Eine Schwellung, Farbveränderung und ulkusartige Läsion an der Zunge sollten in der klinischen Praxis den Verdacht auf eine Riesenzellarteriitis nahelegen.
Dr. med. Victoria Salati
Service d’otorhinolaryngologie et chirurgie cervico-faciale, CHUV, Lausanne
Die Autoren danken Prof. Patric Hagmann von der Abteilung für Radiodiagnostik und interventionelle Radiologie für die wertvolle Zusammenarbeit bei der Beschaffung undBefundung der radioloischen Bilder.
Die Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Dr. med. Victoria Salati
Service d’otorhinolaryngologie et de chirurgie cervico-faciale
Centre hospitalier Universitaire vaudois (CHUV)
Rue du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
1 Mackie SL, Dejaco C, Appenzeller S, Camellino D, Duftner C, Gonzalez-Chiappe S, et al. British Society for Rheumatology guideline on diagnosis and treatment of giant cell arteritis: executive summary. Rheumatol Oxf Engl. 2020;59(3):487–94.
2 Zaragoza JR, Vernon N, Ghaffari G. Tongue Necrosis as an Initial Manifestation of Giant Cell Arteritis: Case Report and Review of the Literature. Case Rep Rheumatol. 2015;2015:901795.
3 Sobrinho RABS, de Lima KCA, Moura HC, Araújo MM, de Assis CMRB, Gouveia PADC. Tongue Necrosis Secondary to Giant Cell Arteritis: A Case Report and Literature Review. Case Rep Med. 2017;2017:6327437.