Perioperatives Management bei Erkrankten mit Post-COVID-19-Syndrom
Schlaglicht: Anästhesiologie und perioperative Medizin

Perioperatives Management bei Erkrankten mit Post-COVID-19-Syndrom

Medizinische Schlaglichter
Ausgabe
2023/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09303
Swiss Med Forum. 2022;23(06):886-887

Affiliations
a Unité des soins péri-interventionnels, Service d’Anesthésiologie, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève; b Servizio di Anestesiologia, Ospedale Regionale di Lugano, Civico e Italiano, Lugano; c Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen

Publiziert am 08.02.2023

Erkrankte mit Post-COVID-19-Syndrom unterziehen sich chirurgischen und nicht chirurgischen Interventionen. Eine Evidenz für das optimale perioperative Management fehlt. Dieses Schlaglicht liefert Entscheidungshilfen.

Perioperative Implikationen bei Erkrankten mit Post-COVID-Syndrom

Die Kommission für perioperative Medizin der Schweizerischen Gesellschaft für Anästhesiologie und perioperative Medizin (SSAPM) hat die Datenlage für Erkrankte mit Long- oder Post-COVID-Syndrom (PCS) und perioperativen Interventionen aufgearbeitet. Die Fakten wurden am Frühlingssymposium 2022 präsentiert und zu pragmatischen Entscheidungshilfen zusammengefasst.
6–20% aller Erkrankten nach SARS-CoV-2-Infektion leiden unter Symptomen, die mit einem PCS vereinbar sind [1]. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verlangt eine Krankheitsdauer von mehr als drei Monaten. Die Krankheitsdauer scheint mit der Schwere der SARS-CoV-2-Infektion assoziiert zu sein. Beim PCS handelt es sich vermutlich um eine systemische, chronische Entzündungsreaktion mit veränderter Immunantwort und endothelialen, mikrovaskulären Läsionen. Im Hinblick auf eine chirurgische oder nicht chirurgische Intervention stellen die Erkrankten mit PCS eine perioperative Hochrisikopopulation dar. Komplexere Interventionen gehen mit einer akuten Entzündungsreaktion einher, die sich bei Erkrankten mit PCS auf die chronische Inflammation und Organdysfunktionen aufpfropft. Je schwerer die Infektion und je früher die Intervention, desto höher ist das Risiko des Auftretens schwerer postoperativer Komplikationen. Eine präzise Evaluation der Komorbiditäten mittels des «American Society of Anesthesiologists Physical Status»-(ASA-PS-)Scores [2] und der Fragilität mittels zum Beispiel der «Clinical Frailty Scale» (CFS) [3] sind deshalb essentiell.

Organspezifische Aspekte

Anstrengungsintoleranz und Dyspnoe sind die häufigsten Beschwerden und können pulmonale oder kardiale Ursachen haben. Typischerweise persistieren Veränderungen im Lungen-Computertomogramm (-CT) bei ehemals intensivmedizinisch behandelten Erkrankten noch nach einem Jahr und die periphere Sauerstoffsättigung (SpO2) ist bei etwa 40% der Erkrankten erniedrigt. Eine Evaluation des Risikos der postoperativen pulmonalen Komplikationen mithilfe des «Assess Respiratory Risk in Surgical Patients in Catalonia»-(ARISCAT-)Score [4] ist präoperativ unabdingbar. Eine potentielle Therapie mit Bronchodilatoren muss über die perioperative Periode weitergeführt werden. Die intravenöse Flüssigkeitszufuhr soll restriktiv erfolgen, um eine Überwässerung mit Lungenödem und Hypoxämie zu vermeiden. Bei vormals tracheotomierten Erkrankten können die oberen Luftwege verändert sein, was zu Intubations- oder Beatmungsschwierigkeiten führen kann. Ausserdem leiden viele der intensivmedizinisch betreuten Erkrankten unter einer generalisierten, auch die Atemmuskulatur betreffenden Muskelschwäche, die nach einem äusserst sorgfältigen Umgang mit Muskelrelaxanzien verlangt. Wegen möglicher Besiedelung mit multiresistenten Keimen muss unter Umständen die Antibiotikaprophylaxe angepasst werden.
Während SARS-CoV-2-Infektionen werden häufig erhöhte Troponinwerte beobachtet, die auch bei Erkrankten mit PCS persistieren können und auf inflammatorische Kardiomyopathien mit ventrikulären Dysfunktionen zurückgeführt werden. Während der perioperativen Periode werden gehäuft myokardiale Schädigungen, akute Myokardinfarkte, akute Tachyarrhythmien oder akute Herzinsuffizienzen beobachtet. Nach durchgemachtem akutem Atemnotsyndrom (ARDS) muss mit einer Rechtsherzinsuffizienz gerechnet werden. Je nach Anamnese, dem «Revised Cardiac Risk Index» [5] und den klinischen Symptomen erfolgen präoperativ ein Elektrokardiogramm und die Bestimmung kardialer Biomarker (NT-proBNP [«N-terminal pro-B-type natriuretic peptide»] und Troponin). Abhängig vom Befund können weitere Abklärungen (Echokardiographie) angezeigt sein. In der perioperativen Periode kann ein invasives arterielles Monitoring zusammen mit intermittierenden Blutgasanalysen frühzeitig eine akute Kreislaufinstabilität aufzeigen. Katecholamine und Antiarrhythmika sollten in Reichweite sein. Postoperative Troponin-Messungen für drei Tage können für Erkrankte mit PCS empfohlen werden. Die postoperative Nachbehandlung kann «Intermediate Care» (IMC) oder intensivmedizinische Betreuung verlangen.
Chronische Müdigkeit und kognitive Störungen («brain fog») gehören zu den häufigsten Symptomen bei Erkrankten mit PCS. Ältere Menschen leiden häufiger unter neurokognitiven Verschlechterungen. Zwei Jahre nach der SARS-CoV-2-Infektion bleibt die Inzidenz kognitiver Einschränkungen, von Demenz und Epilepsie erhöht. Zwischen 6–14% der Patientinnen und Patienten haben eine reduzierte Mobilität und eine erhöhte Fragilität. Bei Erkrankten mit längerer intensivmedizinischer Betreuung sind Neuromyopathien nicht selten; sie können auch an einer Dysphagie leiden und deswegen eine Malnutrition aufweisen. Diese Erkrankten haben ein erhöhtes Risiko für eine postoperative Pneumonie, das mit einem erhöhten Sterberisiko einhergeht. Bei geeigneten Erkrankten könnte eine muskuläre und neurokognitive Prähabilitation erwogen werden. Benzodiazepine sollen wegen des erhöhten Risikos eines postoperativen Deliriums gemieden werden. Eine frühe postoperative Orientierung, Mobilisierung und perorale Ernährung können das Risiko von postoperativen neuro-kognitiven Störungen klein halten.

Weitere Aspekte

Eine schwere SARS-CoV-2-Infektion führt zu einer Endothelitis und zu einer Aktivierung des Gerinnungssystems. Die Folge können Mikrothromben sein. Diese Mikroangiopathien können zu Funktionsstörungen von Endorganen führen. Nach sechs Monaten nimmt das Thromboserisiko stark ab. Viele Erkrankte werden nach schwerer SARS-CoV-2-Infektion mit oralen Antikoagulanzien behandelt. Wird der Eingriff als dringlich und mit einem hohen Benefit einhergehend angesehen, muss das Gerinnungsmanagement interdisziplinär besprochen und individuell dem Risiko anpasst werden. Im Zweifelsfall kann eine Abklärung mittels Kompressions-Ultraschall angezeigt sein. Die postoperative therapeutische Wiederaufnahme der Antikoagulation darf erst erfolgen, wenn die lokale Blutungssituation unter Kontrolle und die Hämoglobinwerte stabil sind. Bei Erkrankten, die intensivmedizinisch betreut wurden, ist mit schwierigen venösen und arteriellen Punktionen zu rechnen. Eine sonographische Einlage von arteriellen oder venösen Kathetern kann notwendig sein.
Schilddrüsendysfunktionen wurden bei Erkrankten mit PCS beschrieben. Bei Erkrankten mit unklaren Tachykardien, Arrhythmien und Palpitation sollte eine präoperative Bestimmung des Thyreoidea-stimulierenden Hormons (TSH) vorgenommen und gegebenenfalls eine Fachärztin oder ein Facharzt für Endokrinologe beigezogen werden. Stehen Erkrankte mit PCS unter Steroiden, muss an eine perioperative funktionelle Nebenniereninsuffizienz gedacht und eine «Stress-Prophylaxe» verabreicht werden.

Schlussfolgerungen

Erkrankte mit PCS, die für (nicht) chirurgische Interventionen vorgesehen sind, haben eingeschränkte Funktionsreserven und weisen entsprechend ein erhöhtes perioperatives Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko auf. Ganz besonders gilt dies für Erkrankte, die wegen einer SARS-CoV-2-Infektion hospitalisiert werden mussten und intensivmedizinische Unterstützung brauchten. In jedem Fall gilt es, die gesundheitliche Situation der Erkrankten mit PCS sorgfältig zu erfassen und das perioperative Management individuell anzupassen. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine hohe ärztliche und pflegerische Kompetenz in allen Aspekten der perioperativen Medizin sind für ein optimales Outcome von entscheidender Bedeutung.
Prof. Dr. med. Bernhard Walder
Unité des soins péri-interventionnels, Service d’Anesthésiologie, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genève
Die Autoren bedanken sich bei Frau Dr. Suzanne Reuss, Generalsekretariat SSAPM, für das Korrekturlesen.
MF ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin sowie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Die anderen Autoren haben deklariert, keine potentiellen Interessenskonflikte zu haben.
Prof. Dr. med. Bernhard Walder
Unité de soins péri-interventionnels
Service d’Anesthésiologie
Hôpitaux Universitaires de Genève
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
CH-1211 Genève 14
1 Menges D, Ballouz T, Anagnostopoulos A, Aschmann HE, Domenghino A, Fehr JS, Puhan MA. Burden of post-COVID-19 syndrome and implications for healthcare service planning: A population-based cohort study. PLoS One. 2021;16(7):e0254523.
2 Horvath B, Kloesel B, Todd MM, Cole DJ, Prielipp RC. The Evolution, Current Value, and Future of the American Society of Anesthesiologists Physical Status Classification System. Anesthesiology. 2021;135(5):904–9.
3 McIsaac DI, Harris EP, Hladkowicz E, Moloo H, Lalu MM, Bryson GL, et al. Prospective Comparison of Preoperative Predictive Performance Between 3 Leading Frailty Instruments. Anesth Analg. 2020;131(1):263–72.
4 Canet J, Gallart L, Gomar C, Paluzie G, Vallès J, Castillo J, et al. Prediction of postoperative pulmonary complications in a population-based surgical cohort. Anesthesiology. 2010;113(6):1338–50.
5 Lee TH, Marcantonio ER, Mangione CM, Thomas EJ, Polanczyk CA, Cook EF, et al. Derivation and prospective validation of a simple index for prediction of cardiac risk of major noncardiac surgery. Circulation. 1999;100(10):1043–9.