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Fokus auf … Praxisrelevant Journal Club

Kurz und bündig

Aktuelles aus der Wissenschaft
Ausgabe
2023/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2022.09365
Swiss Med Forum. 2022;23(06):884-885

Affiliations
Wissenschaftliche Redaktion Swiss Medical Forum

Publiziert am 08.02.2023

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Fokus auf …
Chronische Hepatitis B
Das Hepatitis-B-Virus (HBV) verursacht bei Neugeborenen fast immer und bei Erwachsenen in circa 10% eine chronische Infektion.
Die Chronizität entsteht unter anderem dadurch, dass sich die T-Zellen gegen die hohe HBV-Antigenlast erschöpfen. Zudem gelingt es der humoralen B-Zell-Abwehr nicht, genügend Antikörper gegen die Antigene HBs (HBsAG) und HBe (HBeAG) zu bilden.
Die Diagnose «chronische Hepatitis B» beruht auf der Persistenz des HBsAG >6 Monate.
Durch das Wechselspiel von Virusreplikation und Immunreaktion entsteht eine chronische Leberschädigung. Nekrosen der Hepatozyten und Fibrosebildung führen zu Leberzirrhose und hepatozellulärem Karzinom.
Personen mit chronischer Hepatitis B sollten – in Zusammenarbeit mit einer Fachspezialistin oder einem Fachspezialisten – regelmässig kontrolliert werden: dabei spielen Labor, Bildgebung (meist Ultraschall) und gelegentlich Biopsie eine entscheidende Rolle für die Therapie.
Die Krankheit ist durch Phasen mit wechselnden HBV-Konzentrationen (<103 bis >107 IU/ml) und unterschiedlicher Entzündungsaktivität (Transaminasen) in der Leber charakterisiert.
Auch wenn das Immunsystem Antikörper gegen HBeAG aufbauen kann (HBeAG negativ), persistiert die chronische Infektion meist und muss weiter überwacht werden.
Die Indikation einer antiviralen Therapie besteht dann, wenn eine Leberschädigung vorliegt (Transaminasen, Ultraschall, Biopsie) und die HBV-DNA >2000 IU/ml liegt.
Aktuell werden Nukleosid/tid-Analoga (Tenofovir, Adefovir, Entecavir) eingesetzt, welche die HBV-Polymerase hemmen. Die Entwicklung von Zirrhose und Leberkarzinom kann damit verhindert oder verzögert werden.
Die Therapie muss lebenslänglich eingenommen werden. Eine Heilung ist erst nach jahrelanger Therapie möglich (erkennbar durch Verschwinden des HBsAG).
Neue Präparate verhindern den Eintritt des HBV in die Zelle oder den geordneten Kapsidaufbau. Zahlreiche Phase-1- und -2-Studien sind im Gange. Gleichzeitig wird versucht, die Immunantwort der T- und B-Zellen mittels Immunmodulation zu verstärken.
N Engl J Med. 2023, doi.org/10.1056/NEJMra2211764.
Verfasst am 22.1.2023_MK.

Praxisrelevant

Long-COVID stigmatisiert

Stigmatisierung ist dadurch gekennzeichnet, dass Personen wegen eines Gesundheitsproblems nicht die volle soziale Akzeptanz erhalten. Sie werden in der Gesellschaft diskreditiert.
In England wurden 888 von Long-COVID Betroffene mit 13 Stigma-Aussagen konfrontiert, die sie in einer Skala von 0 bis 4 bezüglich ihres Zutreffens auf ihre Person bewerten mussten. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden betrug 48 Jahre, 85% waren Frauen. Bei 440 war die Diagnose in der Krankenakte festgehalten, bei den übrigen wurde Long-COVID ärztlich oder von Patientenseite vermutet. Bei den meisten Studienteilnehmenden dauerten die Beschwerden bereits >18 Monate an.
Stigmatisierung in irgendeiner Form erlebten 95% der Untersuchten gelegentlich, 67% erlebten es häufig. 61% berichteten, dass sie vorsichtig waren, wem sie erzählten, dass sie Long-COVID hätten. 34% bereuten, dass sie gewissen Personen von der Diagnose erzählt hatten.
Die 13 Stigma-Aussagen bezogen sich auf a) Erlebnisse mit unfairer Behandlung oder Diskrimination, b) Vorurteile gegen sich selbst und c) Erwartungen von Stigma-Erlebnissen in Zukunft. Nach der Analyse und Gewichtung zeigte sich, dass die Methode der Erfassung sich eignete, um auszusagen, dass alle drei Stigma-Kategorien relevant häufig erlebt wurden. Die Aussagen b und c kamen häufiger vor als a. Des Weiteren kam bei ärztlich festgehaltener Long-COVID-Diagnose Stigmatisierung häufiger vor.
Stigma per se führt bei Patientinnen und Patienten zu Ängsten, Isolation und belastet auch die Arzt-Patienten-Beziehung. Die wichtigste Botschaft für uns ist, dass Personen mit der Etikette «Long-COVID» in den meisten Fällen zusätzlich durch Stigmatisierung belastet sind.
Verfasst am 22.1.2023_MK.

Für Ärztinnen und Ärzte am Spital

Eindrücklicher Muskelabbau bei kritisch Kranken

Diese systematische Übersicht quantifiziert, was wir aus Einzelstudien bereits zu wissen meinen: In den ersten Tagen auf der Intensivstation verlieren kritisch Kranke viel Muskelmasse – gut 2% täglich, 15% in der ersten Woche! Fast die Hälfte der Patientinnen und Patienten entwickelt in der Folge neuromuskuläre Störungen, subsumiert als «intensive care unit-acquired weakness».
Allerdings haben die zugrunde liegenden Studien – die Metaanalyse hat 53 Studien mit insgesamt 3251 Personen berücksichtigt – unterschiedliche Muskeln zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Methoden untersucht, ebenso wurden verschiedene Endpunkte gewählt. Aufgrund dieser methodischen Heterogenität lassen sich leider keine quantitativen Aussagen zum Zusammenhang von Muskelabbau und dem weiteren Verlauf machen, insbesondere nicht zur Mortalität, zur Dauer der mechanischen Ventilation oder zur Verweildauer auf der Intensivstation. Bei fehlenden Outcome-Daten bleibt schliesslich auch die Rolle potentiell sinnvoller Interventionen (zum Beispiel proteinreiche Zusatznahrung, frührehabilitative Massnahmen) undiskutiert.
Klar scheint: Der Muskelabbau – als Surrogatmarker für vorbestehende Komorbiditäten und Ausdruck eines schweren Krankheitsverlaufs – ist bei Patientinnen und Patienten während der ersten Tage auf der Intensivstation beträchtlich.
Verfasst am 13.1.23_HU.

Neues aus der Biologie

Familie mit Kindern: Väter seit Menschheit älter als Mütter

Diese bemerkenswerte evolutionsgenetische Arbeit hat anhand von moderner DNA dargelegt, dass innerhalb einer Familie die Väter in allen Perioden der Geschichte der Menschheit um sieben Jahre älter waren als die Mütter.
Kinder erhalten im Erbgut ihrer Eltern Mutationen, die erst in der Keimbahn der Spermien und Eizellen, also kurz vor der Empfängnis, entstehen. Diese Mutationen sind somit in den somatischen Zellen der Eltern nicht vorhanden. Je älter ein Elternteil, desto mehr solche Keimbahnmutationen werden dem Kind weitergegeben. Um diese Mutationen für die Altersberechnung der Eltern zu nutzen, wurde mit den über drei Generationen sorgfältig analysierten Mutationsdaten von 1500 Isländerinnen und Isländern ein «Tracking»-Programm erstellt. Dieses Programm diente dazu, basierend auf dem Genom von 2500 Personen aus der gesamten Weltbevölkerung, diese Mutationen weit zurück – nämlich 250 ​000 Jahre – zu erfassen. In allen Perioden (mit kleinen Schwankungen) waren die Männer durchschnittlich 30,7 Jahre, die Frauen 23,2 Jahre alt.
Dieser siebenjährige Unterschied mag zwar nicht erstaunen, zumal Männer grundsätzlich länger zeugen als Frauen Kinder austragen können. Es lassen sich aber auch Rückschlüsse auf die seit Menschengedenken bestehende patriarchalische Gesellschaftsstruktur ziehen, in der der Mann stets verpflichtet war, mit Ansehen und Beruf das Überleben der Familie sicherzustellen.
Nicht unerwartet sind bereits im Vorfeld dieser Publikation Zweifel an der Methodik geübt worden. Falls sich in unserer Gesellschaft die Stellung der Frau weiter verbessert, könnte die 7-Jahres-Kluft in Zukunft schrumpfen.
Verfasst am 18.1.2023_MK.
Praxisrelevant
Screening auf Vorhofflimmern: sinnvoll oder nicht?
Mit prompter Detektion eines Vorhofflimmerns – es handelt sich mit einer Prävalenz von bis zu 15% bei >75-Jährigen um die häufigste Rhythmusstörung – und konsequenter Antikoagulation kann schätzungsweise rund ein Viertel der ischämischen Schlaganfälle verhindert werden.
Das Vorhofflimmern ist die häufigste Rhythmusstörung bei über 75-Jährigen.
© Luan Rezende / pexels.com
Der Nutzen eines entsprechenden Screenings wurde in der STROKESTOP-Studie [1], einer riesigen Populationsstudie aus Schweden, adressiert. Nach einem Follow-up über fast 7 Jahre konkludiert die Autorschaft, dass mit einem Screening-Programm tatsächlich qualitätskorrigierte Lebensjahre gewonnen und Kosten eingespart werden können (65 QALY [«quality-adjusted life years»] respektive 1,77 Mio € / 1000 Teilnehmende).
Die Studie hat allerdings einen Schönheitsfehler: Obwohl, wenig erstaunlich, in der Screening-Gruppe häufiger ein Vorhofflimmern detektiert wurde, lag nur der Composite-Endpunkt – zusammengesetzt aus ischämischem und hämorrhagischem Schlaganfall, Thromboembolie, Blutung, Gesamtmortalität – signifikant tiefer als in der Kontrollgruppe. Keine Unterschiede fanden sich aber in den einzelnen Endpunkten, insbesondere nicht bei der Rate ischämischer Schlaganfälle. Im Editorial [2] fragt man sich entsprechend zu Recht, wer in eine Strategie investieren wird, die mit der Reduktion von Stroke-Ereignissen Gesundheitskosten sparen will, wenn die Daten zwar Kostenersparnisse aufzeigen, aber gar keine Reduktion von Schlaganfällen ergeben ...
1 Eur Heart J. 2023, doi.org/10.1093/eurheartj/ehac547.
2 Eur Heart J. 2023, doi.org/10.1093/eurheartj/ehac696.
Verfasst am 15.1.23_HU.