AdoASSIP – Kurztherapie für Adoleszente nach Suizidversuch
Schlaglicht: Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

AdoASSIP – Kurztherapie für Adoleszente nach Suizidversuch

Medizinisches Schlaglicht
Ausgabe
2023/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/smf.2023.09391
Swiss Med Forum. 2023;23(23):50-52

Affiliations
a Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Zürich; b Universität Bern, Bern

Publiziert am 07.06.2023

Ein Suizidversuch in der Adoleszenz stellt für Betroffene, Angehörige und Fachpersonen eine grosse Herausforderung dar. AdoASSIP ist eine Kurztherapie, die sich speziell an diese Gruppe wendet.
Herausforderung Adoleszenz (Künstlerin Neva Vogel, Rapperswil-Jona; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung).

Suizidalität bei Adoleszenten

Suizide und Suizidversuche bei Jugendlichen haben in den letzten Jahren im Gegensatz zu denjenigen bei Erwachsenen nicht abgenommen, bei weiblichen Jugendlichen gibt es national und international Hinweise, dass sie sogar zunehmen. Die Suizidalität in dieser Altersgruppe hat sich zu einem klinisch und gesundheitspolitisch relevanten Problem entwickelt. Der Suizidversuch gilt als grösster Risikofaktor für einen wiederholten Suizidversuch oder vollendeten Suizid. Spezifische auf die suizidale Handlung fokussierte Therapieangebote für diese Hochrisikogruppe stellen eine grosse Herausforderung dar und erfolgten bisher nur sehr beschränkt [1, 2]. Im erwachsenen-psychiatrischen Bereich wurde das «Attempted Suicide Short Intervention Program» ASSIP [3] entwickelt, ein spezifisches Kurzinterventionsprogramm, das wiederholte Suizidversuche um fast 80% reduzieren konnte. Mit AdoASSIP wird dieses Kurzinterventionsprogramm erstmals auf Jugendliche angepasst. AdoASSIP wird aktuell in 15 (Halb-)Kantonen (Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Genf, Luzern, Nidwalden, Obwalden, Schwyz, St. Gallen, Thurgau, Uri, Waadt, Zürich) umgesetzt und durch Gesundheitsförderung Schweiz im Rahmen der Prävention in der Gesundheitsversorgung mit 1,5 Millionen Schweizer Franken mitfinanziert. Weitere Kantone haben sich mit eigenen Mitteln der Initiative angeschlossen.

AdoASSIP-Kurztherapieprogramm

Mit der Einführung von AdoASSIP haben wir innerhalb der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie einen Prozess etabliert (Abb. 1 und 2), in dem alle Suizidversuche von Jugendlichen, von denen Mitarbeitende der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfahren, zentral gemeldet werden. Wenn es aus Sicht der fallführenden therapeutischen Person keine Einwände gibt, wird den Betroffenen das AdoASSIP-Kurztherapieprogramm kurz vorgestellt und sie werden zur Teilnahme eingeladen. Hierfür wurden eine Webseite (www.adoassip.ch) sowie Flyer für jeden teilnehmenden Kanton erstellt. Zur Teilnahme benötigt es das Einverständnis sowohl der Betroffenen als auch der sorgeberechtigten Eltern. Hierfür wird ein Vorgespräch durchgeführt, in dem der Ablauf der vierstündigen Kurztherapie erklärt wird. Es ist wichtig, dass AdoASSIP in Ergänzung zu einer bereits bestehenden Therapie erfolgt. Da bei Jugendlichen nach einem Suizidversuch oft keine Therapie vorhanden ist, besteht im Kanton Zürich eine enge Zusammenarbeit mit dem Krisen-, Abklärungs-, Notfall- und Triage-Zentrum (KANT), unserem Notfallzentrum, das bis zur Etablierung einer Therapie diese Rolle übernimmt.
Abbildung 1: Die drei Säulen des AdoASSIP, der für Jugendliche adaptierten Form des «Attempted Suicide Short Intervention Program». SV: Suizidversuch.
Abbildung 2: Übergeordneter AdoASSIP-Prozess innerhalb der Versorgungskette. Suizidversuch der/des Jugendlichen findet statt (z.B. zu Hause, in Klinik, in der Natur etc.) ; 1. Case-Identifikation und Einverständnis zu Überweisung → verantwortlich: zuweisende Organisationen, Partnerorganisationen; 2. Kontaktaufnahme mit AdoASSIP intake und Zuweisung → verantwortlich: zuweisende Organisationen; 3. Kontaktaufnahme AdoASSIP-Therapeut:in mit Jugendlichen → verantwortlich: umsetzende Organisationen; 4. Vorgespräch und Einverständnis der Jugendlichen und Sorgeberechtigten → verantwortlich: umsetzende Organisationen, AdoASSIP-Therapeut:in; 5. Umsetzung Intervention → verantwortlich: AdoASSIP-Therapeut:in; 6. Information Nachbehandelnde → verantwortlich: umsetzende Organisationen. 7. Follow-up-Kontakte → verantwortlich: AdoASSIP-Therapeut:in.
In der ersten Sitzung erfolgt ein narratives Interview, das auf Video aufgenommen wird. In diesem Narrativ sollen die Jugendlichen möglichst frei und so detailliert wie möglich erzählen, wie es zum Suizidversuch gekommen ist. Am Schluss erhalten sie eine Hausaufgabe («Suizid ist keine überlegte Handlung»). Zwischen der ersten und zweiten Sitzung wählt die AdoASSIP-Therapeutin oder der AdoASSIP-Therapeut Videosequenzen aus. In der zweiten Sitzung wird zuerst die abgegebene Hausaufgabe besprochen. Anhand der ausgewählten Videosequenzen versuchen Betroffene und Therapierende gemeinsam, die Gedanken, Emotionen, vegetativen Symptome und das damit verbundene Verhalten zu verstehen (kollaborativer Ansatz). Dabei versucht man zu verstehen, wie die Jugendlichen in den «suizidalen Modus» geraten, einen Zustand, in dem sie sich in der Regel wie im Autopiloten oder in einem Tunnelblickmodus befinden und in dem es schliesslich zur suizidalen Handlung kommt. Persönliche Warnzeichen, Schutz- und Resilienzfaktoren werden miteinander aufgedeckt.
Zwischen der zweiten und dritten Sitzung erarbeitet die AdoASSIP-Therapeutin respektive der AdoASSIP-Therapeut einen Entwurf einer Fallkonzeption (etwa eine halbe bis eine Seite lang), unter anderem auch mit dem Versuch, die (fehlenden) Grundbedürfnisse dem Sterbewunsch gegenüberzustellen. In der dritten Sitzung wird gemeinsam mit den Jugendlichen die schriftliche Fallkonzeption überarbeitet und längerfristige Ziele, individuelle Warnsignale und Notfallstrategien werden formuliert. Der Notfallplan wird schliesslich elektronisch in der App «Robin Z» abgespeichert, einer an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Zürich entwickelten App für das Monitoring von psychiatrischen Symptomen [4]. Am Ende der dritten Sitzung wird das kommende Familiengespräch vorbesprochen.
In der vierten Sitzung stellen die Jugendlichen ihren Eltern oder ausgewählten wichtigen Bezugspersonen die Fallkonzeption, die nicht erfüllten Grundbedürfnisse, die längerfristigen Ziele und die entwickelten Sicherheitsstrategien vor. Soweit sinnvoll und möglich, wird die behandelnde Person in die vierte Sitzung miteinbezogen (allenfalls auch online). Die Fallkonzeption und die Sicherheitsstrategien werden, wenn dies von den Jugendlichen als sinnvoll erachtet wird, gegebenenfalls mit Ergänzungen der Eltern vervollständigt. Die Fallkonzeption ist ein Arbeitsdokument, das durch die fallführende therapeutische Person mit den Jugendlichen auch weiterbearbeitet werden kann.
Weitere geplante Kontakte: Es ist vorgesehen, dass die Betroffenen im ersten Jahr alle drei Monate und im zweiten Jahr alle sechs Monate mittels halbstandardisierter schriftlicher oder elektronischer Nachrichten kontaktiert werden. Ziel davon ist, an den Notfallplan zu erinnern und einen niederschwelligen Kontakt zur AdoASSIP-Therapeutin respektive zum AdoASSIP-Therapeuten aufrechtzuerhalten, was den Effekt der therapeutischen Beziehung stärkt.

Erwartete Vorteile

Wir erwarten, dass AdoASSIP sowohl auf klinischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene einen positiven Effekt hat. Neben einer Sensibilisierung und Entstigmatisierung der Jugendsuizidalität erwarten wir durch AdoASSIP einen Rückgang der wiederholten Suizidversuche und vollendeten Suizide. Weiter trägt AdoASSIP indirekt in den teilnehmenden Kantonen zu einer systematischeren Erfassung von in den Kinder- und Jugendpsychiatrien gemeldeten Suizidversuchen bei. Dies ist wichtig, um zu verstehen, wieso bei den Adoleszenten die Suizide und Suizidversuche im Gegensatz zu denjenigen bei den Erwachsenen nicht rückläufig sind, sondern eher zunehmen. AdoASSIP vernetzt und entlastet relevante Akteure entlang der Versorgungskette und trägt zur Identifizierung jugendspezifischer Risiko- und Schutzfaktoren für Suizidversuche und Suizide bei. Nachhaltige Finanzierungsmodelle der AdoASSIP-Programme sollen im Verlauf des Projektes geprüft werden. Falls die Effektivität von AdoASSIP mit dem Erwachsenen-ASSIP vergleichbar ist, gehen wir in der Schweiz bei flächendeckender Anwendung von relevanten finanziellen Einsparungen im Gesundheitssystem aus.
PD Dr. med. Gregor Berger
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Zürich
Dr. med. Gregor Berger
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Neumünsterallee 3
Postfach
CH-8032 Zürich
gregor.berger[at]pukzh.ch
1 Méndez-Bustos P, Calati R, Rubio-Ramírez F, Olié E, Courtet P, Lopez-Castroman J. Effectiveness of Psychotherapy on Suicidal Risk: A Systematic Review of Observational Studies. Frontiers in Psychology. 201910:277.
2 Kennard B, Mayes T, King J, Moorehead A, Wolfe K, Hughes J, et al. The Development and Feasibility Outcomes of a Youth Suicide Prevention Intensive Outpatient Program. Journal of Adolescent Health. 2019;64(3):362–9.
3 Gysin-Maillart A, Schwab S, Soravia L, Megert M, Michel K. A Novel Brief Therapy for Patients Who Attempt Suicide: A 24-months Follow-Up Randomized Controlled Study of the Attempted Suicide Short Intervention Program (ASSIP). PLoS Med. 2016;13(3):e1001968.
4 Franscini M, Traber-Walker N. Jugendliche mit erhöhtem Psychoserisiko: App-unterstützte Behandlung mit dem Therapieprogramm Robin: Springer; 2021.