Patient Blood Management oder der Umgang mit Fakten
Ein Vorbild, das Schule macht?

Patient Blood Management oder der Umgang mit Fakten

Editorial
Édition
2020/2326
DOI:
https://doi.org/10.4414/fms.2020.08524
Forum Med Suisse. 2020;20(2326):351

Affiliations
Hämatologie Zentrum Zürich, Hirslanden Klinik Im Park, Zürich

Publié le 03.06.2020

Der Beitrag von Dr. Christoph Harms und Kollegen über das «Patient Blood Management» (PBM) am Spital Zofingen [1] in dieser Ausgabe des Swiss Medical Forum hat sehr weitreichende Bedeutung, und das über den Bereich der Transfusionsmedizin und das südwest­liche Aargau hinaus. Die Autoren berichten über Erhebungen zum Umgang mit Blut und Bluttransfusionen an einem Regionalspital. Auch wenn diese Erhebungen keinen streng wissenschaftlichen Kriterien genügen, so wird doch klar, dass sowohl die zuweisenden Hausärztinnen und Hausärzte des Spitals als auch die orthopädische Abteilung, für deren elektive Eingriffe mit voraussehbar relativ hohen Blutverlusten und entsprechendem Transfusionsbedarf das PBM ursprünglich konzipiert war, auf hohem Niveau arbeiten. So betrug die Prävalenz einer präoperativen Anämie vor Knie- und Hüft-Totalendoprothesen-(TEP-)Opera­tionen 2016 nur 10,6%. Die Hausärztinnen und Hausärzte hatten also ihre Arbeit gemacht, auch wenn zwei Drittel der Befragten angaben, noch nie etwas vom Konzept des PBM gehört zu haben. Die Orthopäden am Spital Zofingen arbeiten minimalinvasiv und so waren der Blutverlust bei der Knie-TEP (884 ml) und der Hüft-TEP (901 ml) und damit auch die Transfusionsrate vergleichsweise gering. Auf den Abteilungen für Chirurgie und Innere Medizin konnten die Autoren konservative Transfusionstrigger und damit ein im Wesentlichen restriktives Transfusionsverhalten dokumentieren, und das, obwohl im Spital Zofingen keine Transfu­sionsrichtlinie existiert und ein transfusionsmedizinisches Teaching nur auf der Inneren Medizin erfolgt.
Was diesen Artikel nun so einzigartig macht, ist nicht die fast ideale Ausgangslage am Spital Zofingen vor der Einführung des PBM, sondern die Geschichte dieses Artikels. Als er zum ersten Mal zur Publikation eingereicht wurde, trug er noch eine ganz andere Überschrift, denn die Autoren hatten aus den genau gleichen Daten damals ganz andere Schlussfolgerungen gezogen: PBM eigne sich nicht für ein Spital wie Zofingen, es bringe weder ökonomische noch medizinische Vorteile. Nach der Rückweisung des Artikels zur Überarbeitung kam es zu einem völligen Umdenken: Es ­änderte sich damit nicht nur die Überschrift des Artikels. Inzwischen wurden am Spital auch weitreichende Veränderungen zur Einführung des PBM getroffen. Die Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen und Hausärzten wurde auf eine ganz andere Stufe gehoben, das Angebot des Spitals wurde um eine Anämie-Sprechstunde erweitert, man arbeitet an einer allgemein­gültigen internen Transfusionsrichtlinie und denkt über die intraoperative Verabreichung von Tranexamsäure nach.
Vielleicht könnte das Vorbild des Spitals Zofingen ja Schule machen. Die Daten zum Coronavirus liegen vor: Die Mortalität von 1–2% (Deutschland) betrifft vor allem ältere Patientinnen und Patienten (>70 Jahre) und solche mit Vor­erkrankungen, wobei man weiss, dass sehr alte Patientinnen und Patienten (>80 Jahre) und solche mit schweren Vorerkrankungen nach einer Intubation im Rahmen einer schweren Pneumonie wegen der zu erwartenden Komplikationen häufig trotzdem sterben. Zudem verspüren bei schweren pulmonalen Verläufen der SARS-CoV-2-­Infektion die Betroffenen unter Sauerstoffzufuhr per Maske trotz grenzwertiger Atemfrequenz (30/min) und grenzwertiger Sauerstoffsättigung (85–90%) weitaus seltener Dyspnoe und erschöpfen sich damit auch deutlich seltener als zum Beispiel ­solche mit einer Herzinsuffizienz. Somit sind wir medizinisch weitaus besser aufgestellt als viele dachten. Ende Mai 2020 werden wir einen Durchseuchungsgrad, je nach Schätzung, von 1 bis maximal 10% ­erreicht haben. Das bedeutet, ein Ende des «Social ­Distancing» wird die Epidemie neu entfachen. Eine Fortführung oder gar Verschärfung der jetzigen Massnahmen über weitere 6, 12 oder 18 Monate aber wäre der Tod unserer Wirtschaft. Und das bedeutet nicht nur den Absturz der Börse, sondern auch den Verlust von Arbeitsplätzen in ungekanntem Ausmass. Und damit Armut und vielleicht sogar Hunger. Sicher aber eine dramatische Verschlechterung unserer medizinischen Versorgung. Aber vielleicht gibt es doch ein Umdenken. Vielleicht macht Zofingen doch Schule.
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
PD Dr. med.
Boris E. Schleiffenbaum
Hämatologie Zentrum Zürich
Hirslanden Klinik Im Park
Bellariastrasse 38
CH-8038 Zürich
boris.schleiffenbaum[at]hirslanden.ch
1 Harms C, Metzger R, Bhend H. Patient Blood Management am Kleinspital. Swiss Med Forum. 2020;20(23–26):355–61.